„Die derzeitige Politik vernachlässigt oft die Vielfalt der Werte der Natur“ – mit diesen Worten seiner Vorsitzenden Ana Maria Hernández Salgar hat der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) auf seiner jüngst in Bonn beendeten Tagung einen Bericht vorgestellt, der den andauernden Umgang der Menschheit mit „Natur“ in Frage stellt: Wieder einmal, denn die Kernaussage dieses Statements ist leider alles andere als neu.
Das so genannte Values Assessment des IPBES ist im Grunde nur ein weiterer Mahnruf in der nicht enden wollenden Debatte um die Pläne und Ziele für eine „green“ beziehungsweise meeresbezogen „blue economy“ unter dem Etikett „nachhaltigen Wirtschaftens“. Das Magazin DER SPIEGEL beschreibt das Dilemma heute mit den Worten: „Ein verengter Blick auf die Natur und ökonomisches Gewinnstreben verhindern einen nachhaltigen Artenschutz“; der Deutsche Naturschutzring fasste zusammen, „dass ein zu enger Fokus auf den wirtschaftlichen Wert von Natur die globale Biodiversitätskrise befeuert.“
Mehrere hundert Delegierte aus knapp 140 IPBES-Mitgliedsstaaten hatten vergangene Woche in Bonn getagt und unter anderem diesen Bericht verabschiedet – ein Arbeitsergebnis von 82 Experten aus 47 Ländern. Ein weiteres Ergebnis der Bonner Konferenz ist der parallel beschlossene Expertenbericht zur nachhaltigen Nutzung wildlebender Arten. Beide Studien beinhalten zwar detaillierte und engagierte Beschreibungen, liefern aktuelle Zahlen und Erfahrungen – wirken aber in gewisser Weise auch hilflos. Denn beide schaffen / wagen es nicht, die herrschende Wirtschaftsweise als Ursache der thematisierten Dilemmata zu benennen und zu kritisieren. Beide beschränken sich im Kern darauf, das Maß der ökonomischen Fokussierung auf „Natur“ zu beschreiben und, ja, auch zu beanstanden – beide setzen aber auf Lösungsansätze, die nur an dieser Stellschraube drehen, also den Grad der Fokussierung verändern wollen: Die Ursache selbst wird nicht hinterfragt.
Erhaltung der Meere „ein Wert an sich“…
Kleiner Rückblick: Im Jahre 2007 hatte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), zuvor als Bundesumweltministerin tätig, eine EU-Konferenz zur Meerespolitik in Bremen verbalradikal mit den Worten eröffnet, es dürfe nicht nur auf die Nutzung der Meeresressourcen geschaut werden, die Erhaltung der Meere sei „auch ein Wert an sich“. Das war vor 15 Jahren. Seither ist (nicht nur im Meeresumweltschutz) die Debatte um „Nachhaltigkeit“ immer mehr verkommen. Viele Kräfte aus Politik und Wirtschaft und leider auch aus Forschung und Wissenschaft, gelegentlich selbst aus zivilgesellschaftlichen Strukturen definieren diesen Begriff längst nicht mehr im Sinne von (ökologischer) Vorsorge und (sozialer) Fürsorge; vielmehr geht es oft nur noch um ein immanentes Abfedern von Nutzungsansprüchen. Das eigentliche Ziel einer Debatte über „Nachhaltigkeit“ sollte ein Konsens sein darüber, welcher Grad von Nutzung einer bestimmten natürlichen Ressource noch verträglich sein kann – und welcher das Risiko in sich trägt, in Ausbeutung zu münden. Das aber ist immer mehr abhanden gekommen. Gerade aus der Meeresumweltpolitik kennt man diverse Beispiele – Tourismus, Schifffahrt, Offshore-Industrialisierung, Tiefseebergbau… –, in denen der Anspruch, sensible marine Umwelt „nachhaltig“ zu schützen, mehr oder weniger offen instrumentalisiert wird, um dauerhaft multiple, auch konkurrierende Nutzungen zu rechtfertigen.
Die oben als „hilflos“ bezeichnete Tendenz derartiger Studien (nicht nur) des IPBES drückt sich aus einerseits in Analysen, dass die Bemessung eines bloßen „ökonomischen Werts“ für „Natur“ nicht ausreiche, um ihre vielfältige Wichtigkeit ausreichend deutlich zu machen, und andererseits in der daraus resultierenden Forderung, eben diese Wert-Bemessung künftig höher zu schrauben. Da werden dann Faktoren ins Spiel gebracht wie etwa, die Bedeutung von „Natur“ für eine regionale kulturelle Entwicklung in Bewertungsmaßstäbe einzubeziehen. Oder es werden der „Wert“ von sauberer Luft, sauberem Wasser, der Intaktheit von „Ökosystemen“ beziehungsweise „Ökosystemdienstleistungen“ zusätzlich berechnet. Oder man definiert eine weitgehende Beteiligung Betroffener an Bewertungsprozessen oder Beiträge zu ihrer Entwicklung als zusätzliche Kriterien, formuliert Schutzgebietsansprüche und ihre Ausweitung, um den jeweiligen „Wert“ eines definierten Segments „Natur“ aufzupushen: Wie man es auch dreht und wendet, es geht letztlich immer nur um eines – um mehr, mehr, mehr „Monetarisierung“ von Natur. Salopp ausgedrückt: Weil schützenswert nur das ist, was sich in Euro oder Dollar bemessen lässt, müssen die Preise nach oben getrieben werden – aber bitte, ohne diese Systematik selbst in Frage zu stellen. Wasch‘ mir den Pelz, aber mach‘ mich nicht nass.
Auch wenn es abschließend ein bisschen bitter klingen mag: Der Infodienst Science Media Center Germany zitiert in seinem Bericht über die IPBES-Nachhaltigkeitsstudie den (WATERKANT-LeserInnen nicht unbekannten) Kieler GEOMAR-Forscher Rainer Froese. Obwohl sich dessen Schlusssatz im Kontext auf Fischereifragen bezieht, kann ihm doch eine gewisse Allgemeingültigkeit zugesprochen werden: „Der Bericht wird … voraussichtlich nichts ändern. Wir brauchen nicht noch mehr Berichte, wir brauchen endlich politisches Handeln.“