Die seit November vergangenen Jahres in wechselnder Intensität zu verzeichnenden Angriffe der jemenitischen Ansarollah („Huthis“) auf die im Roten Meer und angrenzenden Regionen verkehrenden Handelsschiffe bereiten der globalen maritimen Wirtschaft inzwischen ernsthafte Probleme: ein Update.
Attackiert wurden und werden Schiffe vor allem in der Straße von Bab al-Mandab, einer 27 Kilometer breiten Meerenge zwischen dem Roten Meer und dem Golf von Aden, vereinzelt auch im Golf selbst. Dieser Schifffahrtsweg ist zentrale Zufahrt zum oder vom Suez-Kanal und damit ein wichtiges Nadelöhr der globalen Schifffahrt. Anfang Mai 2024 bilanzierte der Industrieversicherer Allianz Commercial, zwischen November 2023 und Ende April seien in dieser Region mehr als 50 Handelsschiffe angegriffen worden. Die dabei direkt angerichteten Schäden halten sich bislang in Grenzen: Mitte Februar wurde der Massengutfrachter „Rubymar“ von einer Drohne getroffen und sank kurz darauf. Mitte März kamen beim Raketenangriff auf den Massengutfrachter „True Confidence“ erstmals auch Seeleute ums Leben. Bei weiteren Attacken wurden Schiffe beschädigt und auch Besatzungsmitglieder verletzt. Jüngster Zwischenfall war der Angriff auf den Öltanker „Wind“ am 18. Mai – das Schiff geriet in Brand, konnte aber verzögert weiter fahren.
Ökonomisch weit schwerer wiegen die Folgen für den Seehandel insgesamt: Dieser Beitrag versucht eine Zusammenfassung auf dem Stand von Ende Mai 2024. Er kann aber nur fragmentarisch sein, weil unterschiedliche Quellen teilweise stark voneinander abweichende Fakten liefern – manchmal verwirrend.
Zunächst ein Blick auf den Suez-Kanal: Wer auf der Website der staatlichen Kanalbehörde Suez Canal Authority (SCA) den Suchbegriff „Ansarollah“ oder „Houthi“ (englische Schreibweise) eingibt, erhält die lapidare Auskunft „Nothing here matches your search“ – hier gibt‘s also keine Angaben darüber, was Ägypten aktuell an Einnahmen einbüßt. Das Center for Strategic and International Studies in den USA indes berichtete schon Anfang Januar, die SCA erlebe einen Verlust von rund 40 Prozent im Vergleich zu 2023. Hinzu komme, dass Kanalgebühren traditionell in Fremdwährung gezahlt würden, Ägyptens Wirtschaft büße also massiv Devisen ein.
Wie viele andere Quellen, betont auch Allianz Commercial, wie wichtig der Suez-Kanal für den Welthandel ist. Allerdings ist die Daten-Lage etwas verwirrend. Allianz selbst stellte Anfang Mai fest, „zu Beginn des Jahres 2024“ seien die Schiffspassagen um mehr als 42 Prozent „im Vergleich zu ihren Höchstständen“ zurückgegangen – das schließt alle Handelsschiffs-Arten ein. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) indes bilanzierte Ende März, aktuell würden pro Tag etwa 40 Containerschiffe den Kanal passieren, 2023 seien es täglich mehr als 100 gewesen; das ist ein Rückgang um 60 Prozent, obwohl nur eine Schiffsart gewertet wird. Wer einen fortlaufend aktuellen Überblick zur Frequentierung des Suez-Kanals haben möchte, geht zur neuen Webseite Portwatch des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die offenbart, dass – beispielsweise – am 4. Dezember 2023, also kurz nach Beginn der Ansarollah-Attacken, 69 Schiffe den Kanal passiert hätten, bei einem Wochendurchschnitt von 74. Am 31. Mai dieses Jahres zählte Portwatch 29 Schiffe, Wochendurchschnitt 33.
Interessante weitere Details zu den Kanalpassagen offenbart eine Grafik der Chicagoer Logistikberater project44: Sie stellt dar, von welchen Handelsrouten der Kanal wie stark frequentiert wird. Die Angaben stammen zwar aus 2023, machen aber ein wichtiges Dilemma deutlich: Es geht in der aktuellen Krise nicht einfach nur um Warenströme zwischen Asien und Europa samt Mittelmeer, sondern in der Tat um ein globales Problem.
Knapp 16 Prozent der Kanalnutzung entfallen nämlich auf Asien-Verkehre von und nach Nordamerika, meist der US-Ostküste: Manche Linienreeder wählen zwischen dort und Fernost gerne den Weg via Gibraltar und Suez, um auch Häfen im Mittelmeer oder Arabien bedienen zu können. Darauf aktuell zu verzichten und etwa auf den Panama-Kanal auszuweichen, ist wegen dessen akut niedriger Wasserstände unter anderem in Folge ungewöhnlicher Dürre schwierig; der Umweg übers südafrikanische Kap der Guten Hoffnung aber ist für diese Schiffe extrem lang. Die Folge ist, schreibt das Wiener Logistikmagazin Dispo, eine „signifikante Verlagerung“ von Transporten von der Ost- an die Westküste der USA und Kanadas. Das aber habe dort eine starke Zunahme inländischer Zu- und Abläufe per Schiene oder Lkw zwecks Verschiffung via Pazifik zur Folge.
Rund 58 Prozent der Kanalnutzung indes entfallen project44 zufolge auf den europäisch-asiatischen Seehandel (einschließlich Mittelmeer) – und die meisten dieser Schiffe weichen jetzt auf die Route um das Kap aus. 58 Prozent: Eine Zahl, die ahnen lässt, was die Ansarollah-Attacken bedeuten. Die Kanalblockade durch den Containerfrachter „Ever Given“ im Frühjahr 2021 hatte bereits offenbart, wie sensibel die Verhältnisse sind – aber damals ging es um wenige Tage und bis zur „Re-Normalisierung“ Wochen; jetzt geht es um Monate ohne Aussicht auf ein nahes Ende.
Suez oder Kap – auch hier gibt es voneinander abweichende Angaben über die Folgen. Laut project44 verlängert sich die Transitzeit für die meisten das Kap umfahrenden Schiffe um sieben bis 20 Tage. Im Detail ist das abhängig von Start-, Ziel- und Zwischenhäfen. Das hat logistische und finanzielle Folgen. Manche Reeder lassen ihre Schiffe schneller fahren, um Verzögerungen zu minimieren. „Slow steaming“ für den Klimaschutz hat derzeit keine Konjunktur, der Treibstoffverbrauch steigt und das hat nicht nur Umweltfolgen, sondern verteuert auch den Seetransport massiv.
Verzögerungen wirbeln immer Fahrpläne durcheinander – und damit auch nahezu alle von Pünktlichkeit abhängigen Lieferketten. Wo höheres Tempo als Maßnahme nicht ausreicht, werden etwa Schiffe aus schwächer frequentierten Fahrtgebieten, beispielsweise aus den Linienverkehren zwischen Asien und Südamerika, abgezogen. Aber das hat wiederum dort neue, weitere Störungen zur Folge.
Damit nicht genug: Längere Strecken und „verwirbelte“ Lieferketten führen auch zu Engpässen beim verfügbaren Schiffsraum. Vorübergehend konnten bislang solche Probleme aufgefangen werden dank einer rasant wachsenden Flotte: Nahezu täglich werden immer neue, vielfach größere Containerschiffe in Betrieb genommen. Die globale Transportkapazität der Branche nähert sich derzeit unaufhaltsam der 30-Millionen-TEU-Marke – rund drei Millionen mehr als noch vor einem Jahr. Und in den Orderbüchern der Werften stehen laut dem Info-Portal Alphaliner Neubau-Aufträge für weitere knapp sechs Millionen TEU. Trotzdem geht die dänische Reederei Mærsk laut Dispo – angesichts steigender Frachtmengen im Ostasien-Europa-Verkehr – von zunehmenden Kapazitätsproblemen im zweiten Quartal 2024 aus.
Das US-Portal MarineLink meldete, der französische Familienkonzern CMA CGM schicke einen Teil seiner Schiffe, jeweils unter Militäreskorte, noch immer durchs Rote Meer, weil die Lieferketten es verlangten, wird Konzernchef Rudolphe Saadé zitiert; Engpässe seien zwangsläufige Folge. Prompt geraten in vielen Häfen Liegezeiten durcheinander, und das nicht nur wegen verzögerter Ankünfte. Vielfach fehlt es auch einfach an Containern, weil leere Boxen planwidrig irgendwo liegen geblieben oder verspätet unterwegs sind. Mærsk gab bekannt, bisher mehr als 125.000 zusätzliche Container geleast zu haben.
Leidtragende sind die Seeleute
Bitter sind die Folgen für die Besatzungen: Zum einen müssen Schiffe, bevor sie sich auf den längeren Kap-Weg begeben, mehr Ausrüstung und mehr Proviant einplanen. Für große und seriöse Reedereien ist das kein Problem, ein Experte berichtet aber aus jüngster Zeit von zwei Fällen deutscher Reedereien, bei denen Frischproviant-Portionen (Obst, Gemüse) verringert wurden. Zum anderen gibt es wieder – wie 2020/21 – Probleme mit der Ablösung von Seeleuten, etwa, weil Schiffe während des fahrplanwidrigen Umwegs zusätzliche Häfen anlaufen (müssen). Das dürfte zwar nicht die Dimensionen der Pandemie, als sogar Häfen gesperrt wurden, erreichen. Aber es verlängert die Bordzeiten der Besatzungen und beeinträchtigt so deren Familien.
Fahrzeit, Treibstoffverbrauch, Materialbedarf, Personalnöte – all dies und mehr treibt die Kosten des Seetransports in die Höhe. Nun sind Frachtraten (wohl nicht nur) in der Schifffahrt nie ein reines Abbild realer Marktentwicklungen, sondern zu beträchtlichem Teil immer auch spekulativ. Anders lassen sich auch die jüngsten Sprünge kaum erklären. Die folgenden Angaben stützen sich auf den World Container Index (WCI) des Londoner Beratungsbüros Drewry. Der setzt sich zusammen aus den Werten acht zentraler Verkehrsrouten zwischen China, Europa und den USA und nennt Querschnittspreise in Dollar für 40-Fuß-Container. Zur Erläuterung: Andere Index-Anbieter bieten zwar oft detailliertere Daten – nur stehen diese in der Regel nicht kostenfrei zur Verfügung.
Zu Beginn der Ansarollah-Angriffe – Kalenderwoche (KW) 47/2023 – meldete Drewry einen Index von 1384 $. Innerhalb weniger Wochen – bis zur KW 04/2024 – verdreifachte sich der Preis nahezu auf 3964 $. Obwohl es in den Folgemonaten keine Entspannung, sondern weitere Übergriffe gab, sank der Index Ende April – KW 17/2024 – auf 2706 $, knapp doppelt so viel wie im November, aber gut 30 Prozent unter dem Januarwert. Bei Abschluss dieses Artikels indes – KW 23/2024 – hat der Index einen neuen Rekord von 4716 $ erreicht. Zudem haben laut dem Hamburger Spediteur Navis viele Transportversicherer inzwischen verteuernde Vertragsänderungen durchgesetzt.
nachgeschobenes Update: Der Ratenanstieg setzt sich bislang unvermindert fort. Am 18. Juli 2024 meldete Drewry einen neuen Rekordwert von 5937 $ pro 40-Fuß-Container.
Es gibt unterschiedliche Einschätzungen, wann und wie all diese Teuerungen auf Verbraucherpreise durchschlagen. Mærsk beispielsweise betonte Anfang Mai, man werde die Mehrkosten an die Frachtzahler weitergeben, Konsequenz offen. Die Schifffahrtsorganisation Baltic and International Maritime Council (BIMCO) hingegen prognostizierte etwa zeitgleich einen kommenden Rückgang der Ansarollah-Angriffe und daher wieder sinkende Raten.
Die Ansarollah selbst indes drohten jüngst, nicht nur im Roten Meer oder im Golf von Aden, sondern auch im Mittelmeer Schiffe angreifen zu wollen – eine Option, die von westlichen Militärexperten waffentechnisch für möglich gehalten wird. Es wäre eine Eskalation mit schwer kalkulierbaren Folgen, nicht nur ökonomisch, sondern auch technisch und politisch. Dazu abschließend zwei Beispiele:
- Als im Februar die erwähnte „Rubymar“ nach Drohnenangriff sank, hatte das nicht nur ökologisch katastrophale Folgen – Meeresverschmutzung durch einen riesigen Ölteppich plus rund 41.000 Tonnen Düngemitteln –, sondern führte auch zu einem Kollateralschaden: Just an der Stelle, an der das Schiff versank, liegen laut dem Portal GCaptain etwa ein Dutzend Kabel der interkontinentalen Internet-Infrastruktur. Der Rumpf der „Rubymar“ zerstörte mehrere davon, die Telekommunikation zwischen Europa und Asien war tagelang gestört, Daten mussten umgeleitet werden: Bis heute konnten die Kabel nicht repariert werden.
- Wie bereits berichtet, sollen Ende Januar chinesische Offizielle in Teheran „vorstellig“ geworden sein: Sie hätten vom Iran verlangt, die unterstützten Ansarollah zur Eindämmung ihrer Angriffe auf Schiffe im Roten Meer anzuhalten; anderenfalls könnten die Geschäftsbeziehungen mit Peking gefährdet werden. Unwahrscheinlich klang das nicht: Einerseits sind erhebliche Teile des Seehandels zwischen Europa und Ostasien und damit auch Chinas Interessen betroffen, andererseits ist die Volksrepublik Irans größter Handelspartner – mit deutlichem Handelsbilanzüberschuss. Heute indes ist davon auszugehen, dass der Vorstoß bislang wohl erfolglos blieb: Ende Mai schrieb GCaptain, der jüngst angegriffene Öltanker „Wind“ sei mit russischem Öl an Bord von Novorossiysk unterwegs gewesen – nach China.