Kabelkrieg und Schattenflotte – was ist dran?

Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um durch die Ost­see ver­leg­te wich­ti­ge Kabel nimmt teil­wei­se skur­ri­le For­men an. Immer wie­der wer­den Lei­tun­gen als beschä­digt gemel­det, wird Russ­land „mit sei­ner soge­nann­ten Schat­ten­flot­te“ ver­däch­tigt, genügt west­li­chen Anrai­nern die­se blo­ße Mut­ma­ßung, um in der Ost­see – unter­stützt durch EU und NATO – mas­siv auf­zu­rüs­ten. Der Haken an der Sache: Noch in kei­nem Fall konn­ten bis­lang Bewei­se erbracht werden. 

Anfang des Monats zuletzt bilan­zier­te die „tages­schau“, es sei jüngst „mehr­mals zu Beschä­di­gun­gen an Strom­lei­tun­gen und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­beln in der Ost­see gekom­men“; gemeint waren Kabel zwi­schen Bal­ti­kum und Skan­di­na­vi­en, ein Schiff der „Schat­ten­flot­te“ wur­de fest­ge­hal­ten, Schuld­nach­weis indes Fehl­an­zei­ge. Am ver­gan­ge­nen Wochen­en­de nun bestä­tig­te Finn­land, dass auch Russ­land eine defek­te Lei­tung zu repa­rie­ren habe. Hmmm. In allen Fäl­len wird zwar vor­sätz­li­che Zer­stö­rung als Ursa­che ver­mu­tet – von wem und war­um, bleibt bis­lang offen. Selbst­ver­ständ­lich soll­ten die Ursa­chen umge­hend auf­ge­klärt wer­den, aber bit­te ohne die momen­ta­ne Hysterie.

Die Tat­sa­che, dass sowohl west­li­che Staa­ten als auch Russ­land selbst betrof­fen sind, lässt skep­tisch auf­hor­chen: Das erin­nert an die Atta­cken auf die Nord-Stream-Pipelines 2022 – bis heu­te nicht auf­ge­klärt, ver­deck­te ukrai­ni­sche Betei­li­gung aber nicht aus­zu­schlie­ßen. Es klingt wie ein Sze­na­rio aus einem Agenten-Krimi. Es ist sicher, dass von und nach rus­si­schen Häfen auf der Ost­see (und natür­lich dar­über hin­aus) ver­stärkt Tan­ker und Mas­sen­gut­frach­ter unter­wegs sind, deren tech­ni­scher Zustand als kri­tisch gilt. Über die Grö­ße die­ser „Schat­ten­flot­te“ gibt es unter­schied­li­che Anga­ben, alle aber im drei­stel­li­gen Bereich. Green­peace lis­te­te wie­der­holt Pas­sa­gen die­ser Schif­fe durch die emp­find­li­che Kadet­rin­ne in der Meck­len­bur­ger Bucht auf – über­al­tert, unzu­rei­chend ver­si­chert, teil­wei­se maro­de. Sol­che Schif­fe gefähr­den Mee­re und Küs­ten erheb­lich, auch wenn Unfäl­le, anders als jüngst im Mit­tel­meer oder dem Schwar­zen Meer, bis­lang glimpf­lich ver­lau­fen sind.

Das Sys­tem „Bil­lig­flag­ge“

Eigentlich könnte alles ganz einfach sein. Das UN-Seerechts-Übereinkommen schreibt nämlich in seinem Artikel 91 I 2 unmissverständlich vor: „Schiffe besitzen die Staatszugehörigkeit des Staates, dessen Flagge zu führen sie berechtigt sind. Zwischen dem Staat und dem Schiff muss eine echte Verbindung bestehen.“
Das Problem: Obwohl 170 Nationen der Welt diesem Übereinkommen beigetreten sind – größter Verweigerer sind nach wie vor die USA –, missachten die meisten von ihnen diese Vorschrift. Reeder vor allem in Europa und Asien pfeifen auf „echte Verbindung“ und registrieren ihre Schiffe unter fremder Flagge, um Kosten zu senken.
Denn es gibt Staaten, oft ohne nennenswert eigene Flotte, die ihr Flaggenrecht an gut zahlende Agenturen abtreten. Diese „verhökern“ dann die jeweilige Flagge an fremde Schiffe – und bieten ihnen dafür niedrigere Steuern, Sicherheits- und Sozialstandards als der Heimatstaat sie fordert, weil ja an Bord das Recht des Flaggenstaates gilt.
Solch „Flaggen-Handel“ wird global organisiert, eine Flagge von Antigua etwa kann man in Oldenburg buchen. Laut UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) führen knapp 73 Prozent der Welthandelsflotte eine andere Flagge als das Seerecht es vorschreibt.
Die Gewerkschaften sprechen von „Billigflaggen“. Die Schiffe stellen in der Regel ein hohes Gefahrenpotential für Mannschaft, Ladung und Meeresumwelt dar. Im aktuellen Fall „Schattenflotte“ aber entbehrt es nicht einer gewissen Skurrilität, dass ausgerechnet das von Staaten der so genannten westlichen Welt erfundene „System Billigflagge“ nun genutzt wird, um die westlichen Sanktionen gegen Russland zu unterlaufen – was die Risiken nicht entschuldigt, die solche Schiffe für Meere und Küsten bedeuten. 

Das krimi-gerecht klin­gen­de Eti­kett „Schat­ten­flot­te“ wird ver­wen­det für Schif­fe, mit denen Sank­tio­nen umgan­gen wer­den – es ist nicht neu, aber umstrit­ten. Hier und jetzt geht es nicht um die Fra­ge, wie das aktu­ell geschieht und wel­che Kräf­te betei­ligt sind oder dage­gen hal­ten. Hier geht es um die media­le Auf­re­gung in der Sache: Die­se Schif­fe nut­zen inter­na­tio­na­le Han­dels­rou­ten nach gel­ten­dem See­recht. Sank­tio­nie­ren­de Staa­ten kön­nen ihnen das Anlau­fen eige­ner Häfen ver­bie­ten. Sie kön­nen sie aber nicht ein­fach stop­pen, solan­ge sie nur etwa zwi­schen rus­si­schen und mit Russ­land befreun­de­ten Häfen unter­wegs sind. Die­se See­trans­por­te sind ganz über­wie­gend nicht ille­gal, son­dern trei­ben nur seit Jahr­zehn­ten all­täg­li­che Prak­ti­ken der inter­na­tio­na­len mari­ti­men Wirt­schaft anders als bis­lang üblich auf die Spit­ze. Da geht es zum einen um das soge­nann­te „Aus­flag­gen“, um den Betrieb von Schif­fen unter ande­rer Flag­ge als dem jewei­li­gen Her­kunfts­land (sie­he neben­ste­hen­den Kas­ten und nach­ste­hen­des Inter­view). Zum ande­ren aber geht es um dubio­se Geschäf­te mit über­al­ter­ten Schiffen:

Jüngs­te Berich­te über die­se „Schat­ten­flot­te“ stüt­zen sich auf Recher­chen des inter­na­tio­na­len Netz­werks „Fol­low the money“ (FTM). Des­sen Unter­su­chung „shadow fleet secrets“ ent­stand in Koope­ra­ti­on auch mit deut­schen Medi­en. FTM nennt als eine wesent­li­che Quel­le Unter­la­gen der „Kyiv School of Eco­no­mics“ – einer pri­va­ten Hoch­schu­le aus Kiew, liiert mit der Uni­ver­si­tät Hous­ton und finan­ziert von etli­chen ukrai­ni­schen und west­li­chen Ban­ken, Fir­men und Regie­rungs­stel­len. FTM hat die Spu­ren die­ser Schif­fe der rus­si­schen „Schat­ten­flot­te“ zurück ver­folgt und fest­ge­stellt, dass mehr als ein Drit­tel von ihnen zuvor west­li­chen Ree­dern gehört habe.

Als die Sank­tio­nen gegen Russ­land wegen des Ukraine-Kriegs ver­hängt wur­den, sei­en für über­al­ter­te Schif­fe außer­ge­wöhn­lich hohe Prei­se erzielt wor­den. Die west­li­chen Ree­der hät­ten mehr als sechs Mil­li­ar­den Dol­lar kas­siert für Schif­fe, die eigent­lich hät­ten ver­schrot­tet wer­den müs­sen. Die NGO „ship­b­rea­king­plat­form“ hat­te frü­her schon wie­der­holt auf­ge­deckt, wie ver­deck­te Ver­käu­fe zwi­schen kurz­fris­tig gegrün­de­ten und sofort wie­der auf­ge­lös­ten Fir­men und Händ­lern insze­niert wur­den, um Spu­ren zwi­schen ursprüng­li­chen Eigen­tü­mern und zwei­fel­haf­ten Abwrack­plät­zen zu ver­wi­schen. Sol­che Zick-Zack-Geschäfte sind teil­wei­se auch bei die­sen Trans­fers ange­wen­det wor­den. Die Tat­sa­che, dass west­li­che mari­ti­me Orga­ni­sa­tio­nen – etwa der Ver­band Deut­scher Ree­der (VDR) – die jüngs­ten FTM-Enthüllungen nicht demen­tiert, son­dern sich nur, Unkennt­nis beteu­ernd, über die­se Geschäf­te mokiert haben, lässt dar­auf schlie­ßen, dass die Recher­cheu­re gut gear­bei­tet haben.

 

Inter­view mit Peter Geit­mann – erst See­mann, dann See­be­triebs­rat und bis 2023 Bundes-Schifffahrtssekretär der Gewerk­schaft ver.di.

Schattenflotte“ – klingt gespenstisch. Was sagt der seemännische Experte: Ist es das wirklich? Oder eigentlich Schifffahrtsalltag?
Ja, in der Tat hört sich das ein Stück weit gespenstisch an. Unter Seeleuten und in Gewerkschaften bezeichnen wir solche Schiffe – egal, was sie für wen transportieren – als „Flag of Convenience“, also Bequemlichkeitsflagge, noch klarer trifft es ja die Bezeichnung Billigflagge. Da wird die Nationalflagge eines Schiffs gegen die eines anderen Landes eingetauscht: An den Eigentumsverhältnissen am Schiff ändert sich nichts, aber an Bord derart „ausgeflaggter“ Schiffe gilt dann laut Flaggenrechtsgesetz nicht das Recht des Eigentümer- sondern des Flaggenstaats. In der Folge werden vor allem Steuervorteile erzielt, dabei aber oft Arbeits- und Umweltschutz-, Tarif- und Sozialstandards unterlaufen. Manche Staaten, auch Deutschland, halten sich sogar mit einem „Zweitregister“ eine eigene Billigflagge.
Wie definiert denn die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) eine „Billigflagge“?
Der Begriff meint Flaggenregister, die eben keine Nationalitätenanforderungen an die Reedereien stellen, die diese Flagge verwenden. 1974 hat die ITF folgende Definition beschlossen: „Wenn die nutznießende Eigentümerschaft und Kontrolle eines Schiffes außerhalb des Landes liegt, unter dessen Flagge das betreffende Schiff registriert ist, ist dieses Schiff als ein Billigflaggenschiff zu bezeichnen.“ Die ITF hat vor allem zur Aufklärung über das kaputte Billigflaggensystem ihre gleichnamige Kampagne ins Leben gerufen. Die will insbesondere zeigen, dass diese Praxis weder den Seeleuten noch den Verbrauchern gerecht wird und eher eine Gefährdung darstellt. Immer wieder kontrollieren lokale ITF-Inspektoren in den Häfen Schiffe unter Billigflagge.
Aber auch der Verband Deutscher Reeder (VDR) praktiziert und befürwortet doch das Ausflaggen. Von seinen derzeit knapp 1700 Schiffen sind mehr als 1400 ausgeflaggt. Schifffahrt, sagt der VDR, müsse im globalen Wettbewerb bestehen können. Ist das fair?
Das stimmt ja – aber es ist unlauter, dabei immer nur über die Personalkosten zu reden und die gigantische Reeder-Förderung durch die Tonnagesteuer unerwähnt zu lassen: Bei der werden ja nicht wie in anderen Branchen die Gewinne versteuert, sondern nur eine pauschale Micky-Maus-Abgabe auf die Größe (Tonnage) des Schiffs erhoben. Dabei wird jedoch in Kauf genommen, dass die extensive Billigflaggen-Nutzung sich negativ auf Ausbildung und Beschäftigung einheimischer Seeleute auswirkt und damit auch Nachwuchs-Probleme verstärkt.
Gibt es irgendeine Chance, das Billigflaggen-Unwesen zu stoppen und dem Seerechtsartikel 91 zur weltweiten Geltung zu verhelfen?
Das kann nur die Politik leisten, aber die muss es wollen, was derzeit eher nicht erkennbar ist. Da muss der Druck in der Sache erhöht werden – einmal durch die Finanzbehörden, dehnen durch die Tonnagesteuer erhebliche Einnahmen entgehen, und dann vor allem durch Gewerkschaften, maritime Verbände und Ausbildungsinstitutionen sowie zivilgesellschaftliche Initiativen. Am wenigsten ist von den Seeleuten selbst zu erwarten, sie sind die Schwächsten in der Kette, ihre in Corona-Zeiten lauthals verlangte Anerkennung als „Schlüsselpersonal“ ist ja leider steckengeblieben. Es geht um die Zukunft, dass deutsche Seeleute in den wichtigsten Zuliefertransportbereichen weiter mit dabei sind. Ein Job in der Seeschifffahrt ist sehr vielseitig und interessant – aber warum bilden deutsche Reedereien im Ausland Seeleute für deutsche Schiffe aus und werden dafür noch gefördert?

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WATERKANT-Redaktion