Binnenmeer Nordsee? – Nachdem vor einigen Monaten bereits ein Elbmündungs-Sperrwerk gegen klimabedingte Überflutung Hamburgs erörtert wurde, haben Forscher jetzt errechnet, was ein gigantisches Bauvorhaben mehrerer Dämme kosten würde, um die gesamte Nordsee quasi abzuschotten und so vor unkontrolliertem Meeresspiegelanstieg infolge Klimawandels zu bewahren (siehe Grafik). So jedenfalls steht es in einer „Machbarkeitsstudie“ zweier Wissenschaftler, auf die jetzt das Kieler GEOMAR-Institut in einer Pressemitteilung hingewiesen hat. Entsprechende Dämme könnte es demnach quer über den Ärmelkanal sowie zwischen Schottland und Norwegen geben. Die Arbeit wurde im Bulletin of the American Meteorological Society (BAMS) veröffentlicht.
„Wir sind nicht wirklich der Meinung, dass ein solches Projekt realisiert werden sollte“, zitiert die GEOMAR-Pressemitteilung den Schweden Joakim Kjellsson, der als Juniorprofessor der Maritimen Meteorologie beim GEOMAR Ko-Autor der Studie ist. Nach wie vor sei „die beste Option, … gegen den Klimawandel vorzugehen und (ihn) zu verhindern“, damit derartige Lösungen gar nicht notwendig würden. Und weiter: „Es ging uns auch darum darzustellen, vor welchen immensen Herausforderungen wir stehen, wenn wir die Klimaerwärmung in den kommenden Jahrzehnten nicht in den Griff bekommen. Dann müssen sich zukünftige Generationen mit Problemen dieser Größenordnung beschäftigen oder riesige Landstriche werden unbewohnbar und Millionen von Menschen müssen landeinwärts ziehen“.
Kjellsson und Hauptautor Sjoerd Groeskamp vom Royal Netherlands Institute for Sea Research skizzieren laut Mitteilung ein Jahrhunderte-Szenario: „Wir schreiben das Jahr 2500.“ Weil der klimawandelbedingte Meeresspiegelanstieg nicht verhindert wurde, soll nun der Bau des gigantischen Damm-Projekts helfen, die tiefer gelegenen Gebiete in den Nordseeanrainerstaaten zu schützen; das sei wirksamer „als eine viel längere Küstenlinie mit vielen Einzelprojekten weiter zu verteidigen“. Ein 161 Kilometer langer Damm soll den „Ärmelkanal im westlichen Bereich zwischen Bretagne und Cornwall“ abschotten, ein zweites, 476 Kilometer Mammutbauwerk soll von Schottlands nordöstlicher Grafschaft Caithness – die Inselgruppen der Orkneys und Shetlands würden dem Meeresspiegelanstieg preisgegeben – quer übers Meer bis zum norwegischen Bergen reichen.
„Neben den gigantischen Materialmengen, die für die Aufschüttung solcher Dämme notwendig wären“, schreibt die GEOMAR-Pressemitteilung weiter, „würden auch noch Pumpwerke benötigt, die das aus den Flüssen des umschlossenen Gebietes kommende Wasser in den Atlantik pumpen.“ Das könnte problematisch werden, denn die Autoren rechnen hier mit Leistungen von etwa 40.000 Kubikmeter pro Sekunde – und weisen darauf hin, dass die derzeit leistungsfähigsten Pumpwerke (in New Orleans und am Abschlussdamm des niederländischen Ijsselmeeres) bei etwa 500 Kubikmeter pro Sekunde lägen.
Es heißt zwar auch, dass die Autoren in ihrer Machbarkeitsstudie das nach heutigen Maßstäben auf 250-500 Milliarden Euro Kosten und eine Bauzeit von 20 Jahren geschätzte Vorhaben neben technischen und finanziellen Anforderungen auch auf Auswirkungen auf die Umwelt sowie auf sozio-ökonomische Effekte geprüft hätten. Der veröffentlichte Beitrag im Meteorologen-Bulletin lässt da aber nur Ansätze erkennen.
- Zur Schifffahrt etwa heißt es eher lapidar: Weil auch die großen Handelshäfen wie Rotterdam, Antwerpen, Hamburg oder Bremerhaven durch den Damm abgesperrt würden, bräuchte es beispielsweise Schleusentore einer Größenordnung, wie sie in den Niederlanden und in Belgien bereits für einige der größten Schiffe der Welt in Betrieb seien. Alternativ weisen die Forscher auf die Option hin, außerhalb der Abschottung Kajen zu bauen und die Verteilung der Güter im Nordseeraum dann entweder per Bahn (via Damm und Landanbindung) oder per Feederschifffahrt zu gewährleisten. Sie betonen aber vorsorglich, die maritime Branche sei ja ohnehin „wirtschaftlich betroffen und technisch herausgefordert“, weil in den Häfen auch und gerade ohne Damm ständig anzupassende Schutzmaßnahmen vonnöten seien.
- Auch bezüglich der Auswirkungen sozialer und individueller Faktoren bleiben die Autoren eher wortkarg: „Orts- und Kulturverlust“ (durch Meeresspiegelanstieg) seien „schwer zu quantifizieren und oft subjektiv, für diejenigen, die sie erleben, jedoch real“. Daher sei eine Diskussion darüber zwingend erforderlich. Zwangsmigration führe zum Verlust von Eigentum und kulturellem Erbe und könne psychische und physische Gesundheitsprobleme bewirken. Dies könne Gesellschaften destabilisieren und (inter)nationale Spannungen und Konflikte jenseits der direkt betroffenen Küstengemeinden verursachen. Vor diesem Hintergrund halten die Autoren zwar ihren Vorschlag der Nordsee-Abschottung im Vergleich zu anderweitigen – eben kontinuierlich anzupassenden – Schutzmaßnahmen entlang der gesamten betroffenen Küstenlinie für so etwas wie das kleinere Übel. Immerhin äußern sie aber auch in diesem Kontext die Hoffnung, ihr Vorschlag könne einen „Denkprozess auslösen …, der die Öffentlichkeit für die Bedrohung durch den Meeresspiegelanstieg sensibilisiert und möglicherweise einen Weg für Maßnahmen auf globaler Ebene zur Bewältigung des langfristigen Klimawandels frei macht“.
„Nach unseren bisherigen Maßstäben“, zitiert die GEOMAR-Pressemitteilung Kjellsson weiter, „klingt die Dimension eines solchen Projekts völlig unvorstellbar.“ Es hätte eben nicht nur massive Einschnitte für Fischerei- und Schifffahrtsindustrie zur Folge, sondern auch erhebliche Auswirkung „auf das marine Ökosystem der Nordsee und darüber hinaus“. Aber: „Trotzdem könnte so ein System, wenn es überhaupt technisch realisierbar wäre, wirtschaftlicher sein als individuelle Küstenschutzmaßnahmen in den 15 Anrainerstaaten“, meinen die Autoren – sie scheinen ihrem eigenen Appell, den Klimawandel noch rechtzeitig zu bremsen, nicht recht zu trauen. Deshalb denken sie auch gleich noch ein paar Schritte weiter: Sperrwerke wie beschrieben seien ja auch denkbar in der Irischen See, der Japanischen See, im Mittelmeer, im Roten Meer oder dem Persischen Golf sowie an der Ostsee, soweit die dann nicht schon durch Nordsee-Abschottung geschützt sei. Außerdem könne man ja auch Dämme um schmelzende Gletscher in Grönland und der Antarktis bauen. „All diese Fälle erfordern zukünftige Studien, um zu beurteilen, ob sich ihre potenzielle Konstruktion lohnt.“ Ja, und engagierte Debatten…
Weitere Details siehe GEOMAR-Webseite sowie PDF-Datei der Veröffentlichung.
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