„In einer Zeit, in der Seeleute die Welt in Bewegung halten“, dürfe Covid-19 nicht als Vorwand dienen, ihnen die Löhne zu senken und ihre Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. – Mit einem eindringlichen Appell hat sich vor knapp zwei Wochen, unmittelbar vor dem diesjährigen 1. Mai, die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) an die Weltöffentlichkeit gewandt.
Anlass des Appells sind zum einen die Probleme, die Seeleute aktuell erleiden, weil administrative Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie den an sich üblichen Austausch von Besatzungen be- oder verhindern. Zum anderen prangert die ITF aber scharf zunehmende Versuche einzelner Reeder oder Bemannungsagenturen an, unter dem Vorwand pandemie-bedingter Schwierigkeiten Arbeits- und Tarifverträge außer Kraft zu setzen oder geltende Gesundheits- oder Sicherheitsstandards zu untergraben.
Seeleute, so unterstreicht der ITF-Appell, spielten eine „entscheidende Rolle“ in globalen Lieferketten und arbeiteten auch in Zeiten der Pandemie weiter daran, lebenswichtige Güter und Passagiere zu transportieren, einschließlich notwendiger medizinischer Versorgung, Ausrüstung und Produkte – „selbstlos und trotz Risikos, selbst an Covid-19 zu erkranken“. Da sei es „völlig inakzeptabel“, wenn Unternehmen versuchten, die Pandemie zu nutzen, um etwa beim Crewwechsel Besatzungen, die zu nationalen Tarifen arbeiten, durch Seeleute zu wesentlich schlechteren internationalen Bedingungen zu ersetzen. Beispielhaft wirft die ITF Fährreedereien wie Condor Ferries, Stena Line und P & O Ferries vor, Seeleute entlassen oder sie zu unbezahltem Urlaub gedrängt zu haben. Das kanadische Unternehmen BC Ferries habe einen Tarifvertrag für ungerechtfertigte Entlassungen aufgehoben und versucht, Schiffe mit weniger Besatzung zu betreiben. Zwar sei dies auf Druck der Gewerkschaft später teilweise aufgehoben worden, dennoch missachte die Reederei weiterhin geltende Tarife. James Given, Präsident der Seafarers International Union of Canada, forderte, nationale Regierungen müssten sicherstellen, dass Covid-19 nicht zu unfairen Entlassungen oder Lohndumping führe: „Kritische Handelsrouten, die wichtige Güter liefern, sollten mehr denn je mit nationalen Seeleuten besetzt sein.“ Arbeitgebern, die öffentliche Mittel erhalten, müssten Bedingungen zum Schutz der Seeleute auferlegt werden.
Unterstützung erfuhr die ITF Ende April auch von der UNCTAD, der UN-Organisation für Handel und Entwicklung. In einem Zehn-Punkte-Plan mahnte deren aus Kenia stammender Generalsekretär Mukhisa Kituyi, Schiffe in Bewegung und Häfen offen zu halten und zugleich sicherzustellen, dass Grenzbehörden Pandemie-Kontrollen sicher durchführen könnten. Nur so seien globaler Handel einerseits und Menschen vor Covid-19 andererseits zu schützen. Seeleute, heißt es da unter anderem, seien in der Handelsschifffahrt als Garant weltweiter Lebensmittel-, Energie- und Rohstoffversorgung als „kritisches Personal“ einzustufen; es sei daher von besonderer Bedeutung, dass in jedem Seehafen der Welt Besatzungen an Bord ihrer Schiffe gehen oder von dort nach Hause zurückgeführt werden könnten.
Mit den UNCTAD-Forderungen erfährt die inzwischen weltweite Kampagne für reibungsloseren Crewwechsel selbst in Pandemie-Zeiten zwar zusätzlichen Auftrieb. Selbst Alfonso Castillero, Chef des Registrierungsbüro für die Flagge von Liberia – die auch bei deutschen Reedern nach wie vor beliebte Billigflagge residiert im US-Bundesstaat Virginia –, bekundete der Initiative für schnellen Mannschaftsaustausch laut Branchenportal HANSA „aufrichtige“ Unterstützung. Allerdings bleiben massive Probleme der Rückführung ungelöst, denn gelungene Crewwechsel erfordern über den Einfluss maritimer Akteure hinaus auch funktionierende lokale Verbindungen von und zu den Seehäfen. Auf den Philippinen beispielsweise „stranden“ viele heimkehrende Seeleute in Manila, weil pandemie-bedingt der Fährverkehr zu ihren Heimatinseln blockiert ist.
Immerhin stoßen Vorschläge wie seitens der EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen, aus Gründen effektiven Gesundheitsschutzes nur noch in bestimmten großen Seehäfen Besatzungswechsel zuzulassen, inzwischen auf immer breiteren Widerstand sowohl der maritimen Branche als auch der Gewerkschaften.