Unter der Überschrift „Der Zustand von Nord- und Ostsee“ prangert eine Greenpeace-Studie „Deutschlands Versagen, die Meere zu schützen“ an: Der Zustand der Meere sei auch im Jahr 2020 noch schlecht, es würden „Nutzungsinteressen einerseits und beständige Belastungsquellen andererseits“ nicht ausreichend reguliert – und das, obwohl gesetzliche Rahmen dafür Handlungsoptionen lieferten.
Das Szenario kennt man: Umweltinitiativen analysieren eine konkrete Situation, kritisieren deren Zustand, benennen Defizite politischen Handelns – und prompt finden sich staatliche Experten, die ein Detail der Analyse aufgreifen, mehr oder weniger verkürzt darstellen und so gewappnet zum medialen Gegenschlag ausholen. Aktuell hat es Greenpeace derart „erwischt“ – genauer: Greenpeace hat die Politik einmal mehr vorgeführt.
In der genannten Studie prangert die Autorin, die Meeresbiologin Karoline Schacht, unter anderem an, der deutsche Beitrag – eben für die heimischen Meere Nord- und Ostsee – falle zu gering aus. Sie verweist dazu auf die lückenhafte nationale Umsetzung geltenden europäischen Rechts, belegt im Folgenden konkrete Defizite bezüglich der EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL), der Natura-2000-Richtlinien oder der Gemeinsamen Europäischen Fischereipolitik (GFP).
Wer die Situation von Nord- und Ostsee kennt, ist von dieser Kritik nicht überrascht – toll ist aber die pointierte Zusammenfassung dieser lange währenden Missstände. Rechtskräftige Normen der EU erlegen den Mitgliedsstaaten beispielsweise auf, in ihren Meeresgebieten den ökologischen Zustand zu erfassen und zugleich Schritte zur Erreichung eines „guten Umweltzustands“ einzuleiten. Oder sie haben, anderes Beispiel, sensible Meeres- oder Küstengebiete, in denen einzelne oder mehrere Arten durch anthropogenes Handeln gefährdet sind oder sein könnten, unter Schutz zu stellen. Das Perfide dabei ist, dass Deutschland – zögerlich, aber immerhin – viele derartige Schritte eingeleitet, sie aber nicht abgeschlossen hat. So warten etwa ausgewiesene Schutzgebiete zum Teil seit mehr als zehn Jahren auf wirksame Managementpläne, ohne die die eigentlich zu beanstandende Nutzung aber munter weitergehen darf, denn es fehlt ja der Rechtsrahmen, der den Schutz regeln soll.
Schacht, die früher auch in WATERKANT publiziert hat, belegt ihre Kritik exemplarisch mit einem Blick auf die Eutrophierung der Gewässer, auf die Fischerei und das Wohlergehen der Meeressäuger. Unter anderem nennt sie den Zustand von Dorsch- und Heringsbeständen in der Ostsee „besonders drastisch“. An anderer Stelle bemängelt sie den Einfluss der Fischerei und ihrer Lobbyvertretung, die sich „mit Händen und Füßen dagegen (wehre), dass das Allgemeinwohlinteresse des Naturschutzes mehr Einfluss auf das Wirtschaftsinteresse“ bekäme.
Prompt meldet sich Christopher Zimmermann als Chef des Rostocker Thünen-Instituts für Ostseefischerei via dpa zu Wort, behauptet, es gehe Nord- und Ostsee besser als vor 30 Jahren (was Greenpeace gar nicht bezweifelt) und wirft der Studie „verzerrte Aussagen“ vor. Wer näher hinschaut, sieht allerdings, dass sein Richtigstellungsversuch – „einem von zwei Dorschbeständen …und einem von vier Heringsbeständen“ gehe es „schlecht oder sehr schlecht“ – den Aussagen der Gutachterin Schacht gar nicht widerspricht.
Unterm Strich bleibt festzuhalten: Die Greenpeace-Kritik ist in vielen Details nicht neu, aber diese verständliche Zusammenfassung (frei downloadbar) ist als eindringliche Mahnung zu verstehen, dass sich im Meeresschutz endlich etwas bewegen müsse. Bedauerlich ist, dass die mit Druck betriebene Industrialisierung der Meere und ihrer Küsten – Offshore-Windkraft samt Infrastruktur, LNG- und Wasserstoff-Ausbaupläne, Flussvertiefungen, Häfenerweiterungen etc. – nicht als weitere Risikofaktoren für „guten Umweltzustand“ problematisiert worden sind.
Dieser Text ist in ähnlicher Form auch am 20. Juli 2020 in der Tageszeitung „junge Welt“ erschienen.