Der seit Jahren nur schwelende Streit um den Verlust seemännischen Knowhows in der maritimen Wirtschaft könnte sich demnächst zuspitzen: Vorgestern hat die Bundesfachgruppe Maritime Wirtschaft der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) einen „grundlegenden Richtungswechsel hin zu mehr Beschäftigung und Ausbildung der Schifffahrtsbranche“ gefordert. Der Appell zielt auf die 12. Nationale Maritime Konferenz (NMK), die Mitte Mai in Rostock stattfinden soll.
Jüngst hatten sowohl der Verband Deutscher Reeder (VDR) als auch das Bundesverkehrsministerium (BMVI) parallel die Wirkung bisheriger Schifffahrts-Subventionen untersuchen lassen – mit dem übereinstimmenden Ergebnis, dass die Förderungen verlängert werden sollten. Hingegen hatte ver.di mit drastisch sinkenden Beschäftigungs- und Ausbildungszahlen belegt, die Subventionen hätten ihre erklärten Ziele verfehlt: Es flössen zwar jährlich viele Millionen Euro Steuergelder, ohne jedoch die begünstigten Reeder verbindlich zu Gegenleistungen zu verpflichten.
Eben das wird jetzt von ver.di erneut angemahnt. Die schifffahrtspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung müssten maritimes Knowhow in Deutschland „nachhaltig“ sichern. Dazu seien „Perspektiven für Ausbildung und Beschäftigung deutscher Seeleute“ zu entwickeln. Wie dringend das ist, zeigt die Tatsache, dass die Regierung nahezu zeitgleich mit dem ver.di-Appell dem Bundestag einen Gesetzentwurf zur Verlängerung des so genannten Lohnsteuereinbehalts vorgelegt hat – die Maßnahme soll um sechs Jahre verlängert und zudem auf Schiffe unter EU-Flagge erweitert werden. Dabei listet die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) derzeit 35 Länder als „Billigflaggen“-Staaten auf – und knapp ein Viertel davon zählt direkt oder indirekt zur EU.
Unter anderem fordert ver.di eine Korrektur der Schiffsbesetzungsverordnung: 2016 war diese zum Vorteil der Reeder angepasst, die Anzahl der mindestens vorgeschriebenen deutschen bzw. EU-Seeleute an Bord deutscher Schiffe halbiert worden. Nur durch wenigstens zwei zusätzliche Nachwuchsoffiziere, so ver.di, könnten „die Beschäftigungszahlen deutscher Seeleute stabilisiert und die Ausbildung zum Schiffsmechaniker gesichert werden“. Der Niedergang der deutschen Seeschifffahrt durch Verlust maritimen Knowhows müsse dringend gestoppt werden.
Überraschende Unterstützung
Unterstützung erfährt ver.di von ungewohnter Seite: Karin Kammann-Klippstein, Präsidentin des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie, warnte jüngst vor Verlust maritimen Wissens etwa durch fehlenden Nachwuchs in der Schifffahrt. Sie kritisierte deutlich „die geringe Anzahl von deutschen Schiffen unter deutscher Flagge, auf denen deutscher Nachwuchs ausgebildet wird“ – laut Branchendienst HANSA eine „nicht sonderlich versteckte Kritik an der Flaggenpolitik deutscher Reedereien“. 2019 hatte bereits der ehemalige Präsident des Bundesverbands der See- und Hafenlotsen (BSHL), Kapitän Kurt Steuer, dies ähnlich scharf bemängelt und „sofortiges Handeln“ gefordert.
Zwar gibt es häufig auch Regierungs-Äußerungen, das maritime Knowhow müsse dringend gesichert werden – wie ernst die Große Koalition dies meint, zeigt ein aktuelles Beispiel: Jüngst ist der Auftrag für einen neuen Notfallschlepper Ostsee per Ausschreibung an die spanische Boluda Deutschland GmbH vergeben worden. Peter Geitmann, ver.di-Schifffahrtssekretär, weist darauf hin, die bisherigen drei Notfallschlepper mit hochqualifizierten Teams stellten zugleich den zweitgrößten Ausbildungsbetrieb der deutschen Seeschifffahrt dar. Boluda habe bislang weder entsprechende Fachleute noch Ausbildung betrieben. Die Reederei fährt erhebliche Teile ihrer Flotte unter verschiedenen Billigflaggen. Der für Saßnitz vorgesehene Schlepper „Bremen Fighter“ läuft laut Geitmann derzeit „unter der Billigflagge Antigua mit deutschen Seeleuten im Management und sonst Filipinos“. Zwar sei ein Umflaggen „Vorgabe der Ausschreibung“, dennoch habe die Auftragsvergabe an den billigsten Anbieter „ein deftiges Geschmäckle“.
Nachtrag: Dieser Beitrag erscheint in ähnlicher Form auch in der Tageszeitung „junge Welt“.