Der globalen Handelsflotte steht ein massiver Umbruch bevor: Die globale Pandemie hat nicht nur die interkontinentalen Lieferketten durcheinandergebracht und die Frachtraten in die Höhe schießen lassen, sondern auch viele Reedereien durch enorme Umsatzzuwächse zu Pandemiegewinnern gemacht. Das so in die Schiffahrtskassen gespülte Geld hat Investitionen angeregt, seit Wochen und Monaten bringen immer weitere Neubauaufträge die Orderbücher der großen Werften fast zum Überlaufen.
Noch Ende 2021 hatte die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in ihrem Jahresbericht zur maritimen Wirtschaft festgestellt, die Welthandelsflotte habe zu Beginn des Jahres mit einer Ladekapazität von 165,5 Millionen Tonnen (deadweight tons – dwt) den niedrigsten Stand der vergangenen zehn Jahre erreicht. Dies sei, so UNCTAD, sowohl Finanzierungsschwierigkeiten und Unsicherheiten über künftige Antriebs-Energiequellen als auch den Auswirkungen von COVID-19 zuzuschreiben. Neubauaufträge für Massengutfrachter seien um 36 und die für Fähren und Passagierschiffe um 32 Prozent zurückgegangen. Die Orders für Flüssiggastanker, Stückgut- und Containerschiffe seien zwar gestiegen, hätten das dicke Minus der anderen Gattungen aber nur etwas mildern können. Für 2020 wurde so ein Rückgang der Gesamt-Bestellungen um 16 Prozent bilanziert: „Seit Anfang 2021 gibt es jedoch eine Flut von Neuaufträgen“, schreibt UNCTAD weiter, „in der ersten Hälfte des Jahres 2021 waren die Neubauinvestitionen auf dem höchsten Stand seit 2014“.
Dieser Trend hält seither nicht nur an, sondern verstärkt sich drastisch: Insbesondere in der Containerschifffahrt vergeht kaum eine Woche, da nicht weitere Neubauaufträge gemeldet werden. Anfang März hatte der in Singapur ansässige Infodienst Splash247 berichtet, das weltweite Auftragsbuch für Containerschiffe stehe kurz davor, „ein Allzeithoch zu erreichen und die meisten anderen Schiffstypen außer LNG zu verdrängen“. Inzwischen scheint dieser Punkt erreicht.
Schiffe werden immer größer
Ende März zählte die globale Containerflotte laut Infodienst alphaliner 6349 Schiffe mit einer Kapazität von 25,540 Millionen TEU (20-Fuß-Standardcontainer) – 157 Schiffe und 1,077 Millionen TEU mehr als ein Jahr zuvor. Zugleich aber listet alphaliner aktuell 631 Neubestellungen mit einer Kapazität von insgesamt 5,404 Millionen TEU auf. Davon entfallen 363 Schiffe mit rund 4,502 Millionen TEU auf die ersten zehn „Platzhirsche“ der Weltrangliste für Containerreedereien. Auffällig: Die Durchschnittsgröße der Einheiten nimmt rapide zu. Die Neubauorders sind im Schnitt mehr als doppelt so groß wie die Bestandsschiffe, die Aufträge der größten zehn Reedereien doppelt so groß wie die übrigen Neubauten. Diese Entwicklung dürfte viele (nicht nur deutsche) Häfen vor Herausforderungen stellen.
Schon jetzt, so Splash247, habe sich der Bestand der aktiven globalen Flotte im Vergleich zu 2008 verdoppelt. Das allerdings liegt nicht nur an bereits fertiggestellten Neubauten: Das Portal Vesselsvalue bilanzierte Ende Januar für die Containerbranche eine drastisch gesunkene Verschrottungsquote. Die infolge knappen Schiffsraums boomenden Containerraten in 2021 hätten bewirkt, dass lediglich elf Schiffe verschrottet worden seien (im Vorjahr 83) – dabei war das jüngste 25, das älteste hingegen 70 Jahre alt!
Übrigens berichtet Vesselsvalue zugleich über einen drastischen Anstieg der Tankerverschrottung – mit 301 Einheiten in 2021 eine Verdreifachung gegenüber 2020. Vor allem die Pandemie habe die Nachfrage nach Rohöl gesenkt und ein Überangebot an Tonnage geschaffen. Zugleich seien in diesem Sektor mit nur 181 Bestellungen die Neubauaufträge eingebrochen; das allerdings verwundert die Experten nicht, weil sie für 2019/20 mehr als 700 Orders verbucht hatten, die jetzt oder in naher Zukunft in Dienst gestellt werden. Nur Flüssiggastanker wurden 2021 deutlich mehr bestellt.
Machverhältnisse ordnen sich neu
Zurück zur Containerbranche: Die Entwicklung verschiebt die Machtverhältnisse in der Branche massiv. Anfang 2022 hat die Schweizer Reederei Mediterranean Shipping Company (MSC) den jahrzehntelangen Branchenprimus, den dänischen Konzern A. P. Møller-Mærsk, von der Spitze verdrängt; ein Neubau-Auftragsvolumen von derzeit 77 Schiffen mit 1,194 Millionen TEU Kapazität wird MSC diesen Platz vorerst sichern. Verschiebungen gab es auch auf den folgenden Spitzenplätzen, so konnte etwa Frankreichs CMA CGM den wenige Jahre zuvor an Chinas Staatskonzern COSCO verlorenen dritten Platz zurückerobern. Insgesamt teilen sich die größten Fünf – die teilstaatliche Hamburger Reederei Hapag-Lloyd ergänzt den „Klub“ – 64,9 Prozent des globalen Containerschiff-Marktes. Laut Hansa setzen die Großen zudem immer mehr hinzugekaufte eigene Schiffe ein, verringern so ihren Charteranteil.
Pandemie und Lieferketten-Chaos treiben die Konzentration in der Branche massiv voran – und machen die Marktführer so reich, dass viele von ihnen nicht nur Schiffe, sondern längst auch Terminals, Schlepper- und Festmacher-Dienste oder Speditionen betreiben. Erwähnt gehört aber auch, dass sehr viele der immer größeren Schiffe unter Billigflagge fahren – was laut Gewerkschaft ITF Steuern sparen, Sicherheitsnormen missachten und Tarifheuern vermeiden hilft.
Eine ähnliche Version dieses Textes ist am 1. April 2022
in der Tageszeitung „junge Welt“ erschienen.