Pieth, Mark, und Betz, Kathrin: Seefahrtsnation Schweiz –
Vom Flaggenzwerg zum Reedereiriesen; Zürich 2022; Elster & Salis;
Hardcover, 280 Seiten; ISBN 978-3-0393-0033-4; Preis 24,00 Euro.
„Die Seefahrt ist mit der Umwelt auf Kollisionskurs“, heißt es unter anderem im Vorwort dieses Buches, „und die Arbeitsbedingungen auf Schiffen sind vielfach menschenverachtend“. 222 Seiten später dann dieser Schlusssatz: „Von der Schifffahrtsindustrie Selbstbeschränkung zu erwarten, ist blauäugig.“ – Das hat programmatischen Charakter.
Dies ist kein Buch gegen die Schifffahrt, im Gegenteil: Es kritisiert engagiert das aktuell übliche Branchen-Gebaren (nicht nur in der Schweiz, der Heimat des Autoren-Duos), es liefert dazu fundierte Fakten über Strukturen, Historie und Zusammenhänge. Ergänzt durch praktische Vorschläge fürs politische Handeln, plädiert es eindringlich für mehr Ehrlichkeit, Transparenz und Fairness in der maritimen Branche; es ist ein Appell für eine andere Schifffahrt. Es ist, in allgemein-verständlicher Schreibe, nichts weniger als ein wichtiges Buch.
Autor Mark Pieth ist ein emeritierter Baseler Jura-Professor und leitet heute eine internationale Anwaltskanzlei, die unter anderem auf Wirtschaftsstrafrecht spezialisiert ist. Vor allem ist er Gründer und Vorstandsvorsitzender des Basel Institute on Governance, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich der Bekämpfung von Korruption und anderer Finanzkriminalität verschrieben hat: Pieth gilt als einer der engagiertesten internationalen Antikorruptionsaktivisten. Über seine Ko-Autorin Kathrin Betz ist leider weniger bekannt – nur, dass sie bei Pieth promoviert hat und aktuell in Basel als Anwältin tätig ist.
Im eingangs erwähnten Vorwort stellen beide dieses Buch über die maritime Branche ihres Landes in einen Kontext mit früheren Werken Pieths über Rohstoffhandel und Goldraffinerie: Drei „hoch riskante“ Wirtschaftszweige seien das, deren Probleme und Risiken aber von der „offiziellen Schweiz“ nicht nur nicht zur Kenntnis genommen, sondern auch vor öffentlicher Wahrnehmung verborgen und geschützt würden. Diese Vorgehensweise aufzubrechen und, ebenso faktenreich wie gut lesbar, das Augenmerk der Zivilgesellschaft auf besagte Probleme zu lenken, um deren Verschleierung zu zerreißen – das ist die Absicht von Pieth und Betz.
Wichtig auch „für hier“…
Was direkt zu der Frage führt, warum denn dieses Buch von einem norddeutschen Rezensenten als „wichtig“ für die Betrachtung auch hiesiger maritimer Wirtschaft eingestuft wird. Zwei Antworten dazu:
Zum einen entfaltet in der stark globalisierten Schifffahrtsbranche schweizerisches Agieren durchaus auch direkte Wirkung auf hiesige Verhältnisse – das vom Autorenteam selbst gewählte Einstiegsbeispiel, die Havarie der „MSC Zoe“ vor der niederländisch-deutschen Küste, ist typisch dafür: Die Schiffseignerin, die in der Schweiz beheimatete Mediterranean Shipping Company (MSC), ist Weltmarktführer der Containerschifffahrt und drittgrößte Kreuzfahrtreederei. Daran anknüpfend, erläutern die beiden informativ und oft auch packend, wie totale Geheimniskrämerei plus Ausschöpfung zweifelhafter, aber legaler Tricks Unternehmen zu solcher Größe und Potenz wachsen lassen – und das nicht nur am Beispiel MSC.
Zum anderen erklärt dieses Buch diese und viele zusammenhängende Details des Branchen-Geschehens derart brillant, dass es ohne Übertreibung als Lehrbuch und Handlungsanleitung für eine Auseinandersetzung auch mit der hiesigen maritimen Wirtschaft bezeichnet werden muss. Ob Flaggenrecht, Schiffsregister, Billigflaggen oder internationale Normen, ob Schiffsfinanzierung, Netzwerke in Rohstoff- und Versicherungsmärkte oder Kartellstrukturen, ob Frachtraten, Chartertricks oder Lieferketten-Abhängigkeiten: Pieth und Betz gelingt es auf beeindruckende Weise, solche und weitere Aspekte – weit über Schweizer Bedeutung hinaus reichend – anzureißen, sie knapp, aber verständlich darzustellen und dabei zur eigenen Weiterarbeit mit detaillierten Quellen zu unterfüttern.
Beide beschränken sich dabei nicht auf ökonomische Aspekte, politische oder finanz- und steuerwirtschaftliche Rahmenbedingungen nationaler wie internationaler Ebene: Es gibt in diesem Buch mit seiner sehr lesefreundlichen Gliederung in kurze Kapitel auch mehrere wichtige Abschnitte sozialer und ökologischer Ausrichtung. Die Arbeit auf See in ihrer oft ausbeuterischen Härte gehört ebenso dazu wie die Befassung mit den Risiken von Seetransport unter den Geboten von Kostenminimierung und Profitmaximierung. Umweltschäden durch Schifffahrt werden – samt fundierter Vorschläge zur Verbesserung – ebenso beschrieben wie gegen Schluss des Buches die schändlichen Praktiken des Abwrackens ausgedienter Handelsschiffe auf den Stränden Pakistans, Indiens und Bangladeshs.
Ein absolut wichtiges Buch.
Burkhard Ilschner