Geschichte mit maritimer Komponente – Rezension

Gra­ta­loup, Chris­ti­an: Die Geschich­te der Welt – ein Atlas;
Mün­chen 2022; Ver­lag C. H. Beck; Hard­co­ver, 640 Seiten;
ISBN 978-3-4067-7345-7; Preis 39,95 Euro.

Von „Drei­pfün­dern“ reden heut­zu­ta­ge in der Regel ent­we­der Mili­tär­his­to­ri­ker (und mei­nen dabei bestimm­te Kano­nen­ty­pen) oder Back­wa­ren­ver­käu­fer, die ihre Bro­te anprei­sen. Es sei gestat­tet, hier von die­ser Regel abzu­wei­chen: Wenn der Ver­lag die­ses Anfang Febru­ar schon in fünf­ter Auf­la­ge erschei­nen­de Buch als „opu­len­tes, zum Schmö­kern ein­la­den­des Werk“ anpreist, dann hat er zwar inhalt­lich recht – ver­schweigt jedoch, dass es sich eben um einen sat­ten Drei­pfün­der han­delt: Die­sen mit sei­nen 1,6 Kilo­gramm Gewicht etwas unhand­li­chen Geschichts­at­las zu „schmö­kern“ ist nicht gera­de ein­fach, erweist sich aber als eben­so wert­voll wie unaus­weich­lich, weil Welt­ge­schich­te sel­ten in so packen­der und attrak­ti­ver Form ange­bo­ten wor­den ist.

Der Umschlag, das abge­bil­de­te Cover deu­tet es an, darf in gewis­ser Wei­se pro­gram­ma­tisch ver­stan­den wer­den: Hin­ter der Titel­schrift ver­ber­gen sich die Kon­tu­ren Asi­ens und des West­pa­zi­fiks mit Aus­tra­li­en – Euro­pa, den Atlan­tik sowie den ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent fin­det man auf Buch­rü­cken und Cover­rück­sei­te. Der fran­zö­si­sche His­to­ri­ker Chris­ti­an Gra­ta­loup und mit ihm das Team der in Paris erschei­nen­den Zeit­schrift L’His­toire ver­ab­schie­den, nein: distan­zie­ren sich nach­drück­lich von jener Sicht­wei­se auf die Welt­ge­schich­te, die all­ge­mein als „euro­zen­tris­tisch“ bezeich­net wird. Fol­ge­rich­tig beginnt die­se eben­so span­nend wie lehr­reich illus­trier­te Welt­ge­schich­te unter der Kapi­tel­über­schrift „Eine ein­zi­ge Mensch­heit“ mit deren Ent­ste­hen und anfäng­li­cher Aus­brei­tung von Afri­ka nach Asi­en und Euro­pa sowie über die Mee­re gen Ame­ri­ka, Aus­tra­li­en und Ozea­ni­en. Ergänzt wird dies durch einen Über­blick über die Domes­ti­zie­rung von Fau­na und Flo­ra in den jewei­li­gen Regio­nen – anfangs „nur“ ernährungs-, spä­ter aber auch han­dels­his­to­risch von erheb­li­cher Bedeutung.

Um nicht unnö­tig mit gestal­te­ri­schen Details zu ermü­den: Die­ses schwer­ge­wich­ti­ge Werk fas­zi­niert vor allem durch sei­ne unge­mein intel­li­gen­te Auf­tei­lung in jeweils inhalt­lich geschlos­se­ne Dop­pel­sei­ten – ein oder zwei (sel­ten wei­te­re) Kar­ten mit eben­so über­sicht­lich wie ver­ständ­lich gra­phisch auf­be­rei­te­ten Details, ergänzt durch erklä­ren­de Legen­den; dazu knap­pe, gut les­ba­re Hin­ter­grund­tex­te, die zum wei­te­ren Recher­chie­ren ein­la­den, auch, weil am Kopf der Sei­te immer auf wei­ter­füh­ren­de ande­re The­men­sei­ten des Buchs ver­wie­sen wird; als sehr hilf­reich erwei­sen sich zudem die gele­gent­li­chen, „Chro­no­lo­gie“ beti­tel­ten Rand­spal­ten mit knapp zusam­men­ge­fass­ten his­to­ri­schen Daten. Ja, so wird Geschich­te zu einem eben­so inter­es­san­ten wie unter­halt­sa­men „Schmö­kern“.

Glo­bal“ heißt immer auch „mari­tim“

WATERKANT-Leserinnen und -Leser mögen fra­gen, war­um hier nun gera­de ein Geschichts­at­las vor­ge­stellt wird. Ganz ein­fach: Weil die­ses Werk in (dem Rezen­sen­ten) bis­lang unbe­kann­ter Viel­falt und Genau­ig­keit die Bedeu­tung der Mee­re, der See­we­ge, der Schiff­fahrt für die Ent­wick­lung von Kon­ti­nen­ten, Län­dern, Men­schen und Epo­chen berück­sich­tigt. Wo ande­re his­to­ri­sche Wer­ke sich hin­sicht­lich mari­ti­mer Rou­ten ger­ne mal auf knap­pe Erwäh­nung oder ver­ein­fa­chen­de Dar­stel­lung zurück­zie­hen, beflei­ßigt sich Gra­ta­loup einer oft detail­rei­chen Beschrei­bung, wer wann wo auf wel­chen Rou­ten wel­che Zie­le ange­strebt oder wel­che Absich­ten ver­folgt hat. Sel­ten fin­det man so plas­tisch erläu­tert, dass „Glo­ba­li­sie­rung“ eben kei­ne Erfin­dung des Kapi­ta­lis­mus im 20. Jahr­hun­dert war. Ob „Völ­ker­wan­de­rung“, Migra­ti­on oder Flucht, ob Neu­gier und Ent­de­ckung, Han­del mit Roh­stof­fen und Pro­duk­ten oder Erobe­rung, Aus­beu­tung und Befrei­ung – nichts war, nichts ist im glo­ba­len Maß­stab denk­bar ohne die See­we­ge: Und Gra­ta­loup ist einer, der das weiß und erklärt.

Ja, der quan­ti­ta­ti­ve Schwer­punkt die­ses Atlas – da unter­schei­det er sich wenig von Ver­gleichs­wer­ken – liegt durch­aus auf der „Alten Welt“, womit Euro­pa gemeint ist. Das dürf­te sich schlicht aus dem vor­han­de­nen Daten­ma­te­ri­al der Geschichts­for­schung erklä­ren, denn vie­le ande­re und vor allem älte­re Kul­tu­ren sind nicht annä­hernd so inten­siv doku­men­tiert. Aber der beton­te Ver­zicht auf Euro­zen­tris­mus führt dazu, dass aus die­sen Schwer­punk­ten her­aus immer wie­der auf sozu­sa­gen „exter­ne“ Ein­flüs­se in räum­li­cher, zeit­li­cher oder kul­tu­rel­ler Hin­sicht ver­wie­sen wird. Das beginnt, wie oben ange­ris­sen, bei den Wur­zeln der Mensch­heit nach der jüngs­ten Eis­zeit und zieht sich über die Jahr­hun­der­te erst der Ent­wick­lung und dann der Ver­net­zung der Zivi­li­sa­tio­nen rund um den Glo­bus. Ins­ge­samt: Beeindruckend.

Peer Jans­sen