Knutts als politische Botschafter – Rezension

Lott­mann, Reno: Nächs­ter Halt Wat­ten­meer – Wie ein klei­ner Zug­vo­gel Wel­ten ver­bin­det; Mün­chen 2022; oekom Ver­lag; Paper­back, 357 Sei­ten; ISBN 978-3-9623-8410-4; Preis 26,00 Euro.

Was für ein Buch, was für eine Idee! – Man neh­me einen „klei­nen, unschein­ba­ren Vogel, der Gro­ßes leis­tet“, und fol­ge ihm, dem Knutt­strand­läu­fer, kurz Knutt genannt, auf sei­ner jähr­li­chen Wan­de­rung von der Ark­tis über das deut­sche Wat­ten­meer, das nord­afri­ka­ni­sche Mau­re­ta­ni­en, das zen­tral­afri­ka­ni­sche Guinea-Bissau bis in den Süden die­ses Kon­ti­nents, an die Walvis-Bay von Nami­bia. Zuge­ge­ben: Das klingt auf den ers­ten Blick ziem­lich gewöhn­lich und bekannt, schließ­lich ist über Zug­vö­gel und ihre wei­ten Rei­sen schon viel geschrie­ben worden.

Aber bei Reno Lott­mann – Umwelt- und Kunst­päd­ago­ge, Gra­fi­ker und Foto­graf – ent­steht aus die­sem all­täg­lich anmu­ten­den Ansatz ein Kon­ti­nen­te und Kul­tu­ren ver­bin­den­des, höchst infor­ma­ti­ves Abenteuer-Lesebuch. Denn Lott­mann begnügt sich nicht mit der Beschrei­bung des Lebens und der Rei­sen die­ser Schnep­fen­vo­gel­art, son­dern er bet­tet dies ein in span­nen­de Betrach­tun­gen ihrer Zug-Stationen, und zwar mit inten­si­ven Beob­ach­tun­gen nicht nur jewei­li­ger regio­na­ler Gege­ben­hei­ten, son­dern immer auch der Lebens­um­stän­de der dor­ti­gen Men­schen. Im Ver­gleich der Anpas­sung des Knutt­strand­läu­fers an die jewei­li­gen loka­len Bedin­gun­gen sei­ner Rei­se mit der aktu­el­len Situa­ti­on, aber auch der Geschich­te, Kon­flik­te und Hoff­nun­gen von Nga­nasa­nen (Sibi­ri­en), Imra­guen (Mau­re­ta­ni­en), Bija­gos (Guinea-Bissau) oder Top­naar (Nami­bia) ent­steht ein mul­ti­kul­tu­rel­les Bild, das Lott­mann zusam­men­fasst in dem Satz: „Wir sind enger mit­ein­an­der ver­bun­den denn je.“

Nils Hol­gers­son 2.0“

Einer­seits ist der Autor ehr­lich genug ein­zu­ge­ste­hen, dass die Idee im Ursprung gar nicht von ihm stam­me: Unter dem vor­ste­hend genann­ten Zwi­schen­ti­tel ver­weist er ein­gangs auf Sel­ma Lager­löfs Kin­der­buch aus dem Jah­re 1906 über die Rei­se des klei­nen Nils mit den Wild­gän­sen. Ande­rer­seits wei­tet er den Vor­satz, die­se Geschich­te ins 21. Jahr­hun­dert und von Kin­dern auf Erwach­se­ne zu über­tra­gen, unauf­dring­lich, aber sehr klug und infor­ma­tiv viel stär­ker aus als Lager­löf es je hät­te leis­ten kön­nen (so sie denn gewollt hät­te). Bei Lott­mann wach­sen die ein­zel­nen Kapi­tel – ana­log der Sta­tio­nen des Knutts – zu hoch­po­li­ti­schen, enga­gier­ten Betrach­tun­gen, die etwa auf kolo­nia­lis­ti­sche Ursa­chen ein­zel­ner Lebens­um­stän­de eben­so ein­ge­hen wie Risi­ken und Gewohn­hei­ten von Men­schen unter dem Ein­fluss von extern gepräg­ten, struk­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen, Umwelt­schä­den oder glo­ba­li­sier­ter Ausbeutung.

Kein Wun­der, dass die­ses flüs­sig und ver­ständ­lich les­ba­re Buch zu einem ein­dring­li­chen Appell wird: „Erst wenn wir … akzep­tie­ren, dass die Bio­sphä­re den Rah­men für unser Han­deln setzt und nicht umge­kehrt, … kann ein ech­ter Wan­del ein­set­zen.“ Wobei Lott­mann das Wort „Wan­del“ durch­aus radi­kal meint – Knutts als poli­ti­sche, qua­si anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Bot­schaf­ter: Dar­auf muss man erst ein­mal kom­men. Respekt.

Burk­hard Ilschner