Blass, Tom: Die Nordsee – Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küste;
Hamburg, 2019; mare Verlag; gebunden mit Schutzumschlag;
352 Seiten; ISBN: 978 3 86648 270 8; Preis 28,00 Euro
„Wörter können bei der Nordsee nur versagen“, behauptet Tom Blass auf Seite 332 seines Buches, der letzten Textseite, nachdem er 331 Seiten lang erfolgreich am Beweis des Gegenteils gearbeitet hat. Blass ist ein 49 Jahre alter englischer Journalist, über den der Verlag nur Spärliches verbreitet: Der Londoner (heute in Hastings lebend) habe „Anthropologie, Jura und Politische Geografie studiert“ und sei bewandert auf „den Spezialgebieten Wirtschaft, Recht, Menschenrechte und Außenpolitik“. Nun, ja. – Sicher ist: Blass ist vernarrt in die Nordsee.
Und deshalb hat er eine Ode an das Meer verfasst, wie sie schöner, origineller, sarkastischer, aber auch widersprüchlicher kaum sein kann: „Sobald man sich anschickt, die Nordsee in ihre beiden kurzen Silben zu fassen, lässt dieser Versuch etwas von der Nutzlosigkeit der Sprache an sich erkennen. Aber hier ist der springende Punkt: Genau das, nämlich der düstere Graben zwischen den Wörtern und der Welt, nach der sie die Hand ausstrecken, … sieht ein bisschen aus wie die Nordsee selbst.“ Viele Stunden habe er an den Küsten der Nordsee verbracht und wisse nun, „dass sie alles ist, was wir über sie sagen, und nichts davon.“
Dieses Buch ist weit mehr als nur ein Reisebericht rund um die Nordsee. Blass fuhr kreuz und quer von Küste zu Küste und jeweils an diesen entlang. Er taucht tief ein in die Geschichte der Menschen am und auf dem Meer – egal, ob er ihnen aktuell begegnet oder über solche aus vergangenen Zeiten hört; er beschreibt Friesen, Chauken, Sachsen, Dänen, Wikinger, Holländer. Er gibt Erfahrungen wieder, erzählt Erlebtes und Gerüchte, erklärt Hintergründe und Zusammenhänge, manchmal sprunghaft, aber nie verwirrend. Er spielt mit den Worten, die doch angeblich so wenig geeignet sind, die Nordsee zu beschreiben. Er ätzt, wenn ihm danach ist, aber auf liebevolle Weise. Er schwelgt, aber mit oft triefendem Humor.
„Der Snobismus und das Meer pflegen schon seit Langem eine enge Beziehung, die voller Widersprüche steckt“, heißt es etwa anlässlich eines Besuchs auf Sylt. Oder: „In Husum gibt es einige gut erhaltene alte Häuser und einen Jachthafen, sonst aber ist die Stadt so eintönig wie zu Storms Zeiten.“ Blass thematisiert den technik-orientierten Widerstand der Niederländer gegen Fluten ebenso wie die von ihm als irgendwie stoisch empfundene Lebensweise von Halligbewohnern – nur, um an anderer Stelle den Gezeiten eine Liebeserklärung zu machen: „Schon bald sollte das Wasser zurückkommen, das Land erneut in seiner schaumgekrönten Umarmung liebkosen und es bitten und locken, doch wieder eins zu werden mit dem Meer.“ Er sucht nach Atlantis, findet‘s aber auch nicht. Er lässt Einheimische zu Wort kommen mit kargen Sprüchen, wie die Kellnerin auf den Shetlands, die ihn vor einem Blizzard warnt: „Aye, die Alten wird’s wie immer besonders hart treffen…“ – „Das Gute is‘ aber“, sagte ihr Kollege, „dass keine Bäume umfallen. Haste hier kein’ Stress mit.“
Apropos, ein prima Schluss: Haste Stress? Lieste Blass!
Peer Janssen