Vielfältig einzigartig – Rezension

Küs­ter, Hans­jörg: Das Watt – Wie­ge des Lebens; Mün­chen, 2024; Ver­lag C. H. Beck;
Hard­co­ver, 239 Sei­ten; ISBN 978-3-4068-1422-8; Preis 26,00 Euro

Die­se Buch­vor­stel­lung beginnt mit einer trau­ri­gen Fest­stel­lung: Der Autor hat das Erschei­nen sei­nes – um es vor­weg zu neh­men: bril­lan­ten – Werks nicht erle­ben dür­fen. Nach Anga­ben sei­ner ehe­ma­li­gen Fakul­tät an der Leib­niz Uni­ver­si­tät Han­no­ver ver­starb der Bio­lo­ge Hans­jörg Küs­ter Ende Febru­ar die­ses Jah­res im Alter von nur 67 Jahren.

Viel, sehr viel ist schon über das Wat­ten­meer der Nord­see geschrie­ben wor­den; über sei­ne Ent­ste­hung, Beschaf­fen­heit, Viel­falt, Schön­heit und immer wie­der auch – aus gege­be­nen Anläs­sen – über sei­ne Gefähr­dung. Aber sel­ten dürf­te es eine der­art inten­si­ve Lie­bes­er­klä­rung gege­ben haben, die Sach­in­for­ma­ti­on mit (gekonnt abschwei­fen­den) Hin­ter­grün­den und gele­gent­lich tro­cke­nem Humor ver­bin­det. Küs­ter nimmt sei­ne Leser­schaft mit auf eine Exkur­si­on, die weit mehr lie­fert als eine blo­ße Beschrei­bung – und die einem am Ende trotz aller Inten­si­tät doch unfer­tig erscheint und das Ver­lan­gen nach mehr hinterlässt.

Es ist ein Buch, das die Bedeu­tung des Wat­ten­meers im Netz­werk der Natur dar­stellt. Was unter­schei­det ver­schie­de­ne Arten von Watt? Wie wird es von Gezei­ten, Jah­res­zei­ten und Wet­ter­ein­flüs­sen geprägt und ver­än­dert? Wel­che Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Watt und Meer und Küs­te bestim­men Form und Wir­kung des einen wie des ande­ren? Wie beein­flus­sen der Mensch bezie­hungs­wei­se eine anthro­po­ge­ne Nut­zung und das Wat­ten­meer sich gegen­sei­tig, wo sind natür­li­che, wo nöti­ge Gren­zen? Wel­che his­to­ri­schen Gege­ben­hei­ten und Ereig­nis­se haben das Watt und sei­ne kor­re­lie­ren­den Umge­bun­gen sich wie ent­wi­ckeln las­sen? – Sol­che und vie­le ähn­li­che oder wei­ter­füh­ren­de Fra­gen wirft Küs­ter nicht ein­fach nur auf, son­dern beant­wor­tet sie eben­so aus­führ­lich wie undog­ma­tisch und durch­ge­hend ver­ständ­lich. Dank sei­ner oft locke­ren Schreib­wei­se lässt sich das zudem ange­nehm lesen, ja, par­ti­ell verschlingen.

Bril­lan­te Seitensprünge

Ob Tiden­hub oder Schweins­wal, See­hun­de oder Algen, Strand­läu­fer oder Con­tai­ner: Es erscheint müßig, an die­ser Stel­le auf all die Ele­men­te zu ver­wei­sen, die – wenn­gleich oft anders – auch in sons­ti­gen Wer­ken übers Watt nach­zu­schla­gen sind. Was die­ses Buch so beson­ders macht, sind die the­ma­ti­schen Sei­ten­sprün­ge, mit denen Küs­ter auf den ers­ten Blick völ­lig abwe­gig schei­nen­de Fra­gen auf­wirft oder Fak­ten beschreibt; und erst in der Erläu­te­rung wird lang­sam klar, was auch die­se oder jene Ent­wick­lung denn mit dem Wat­ten­meer zu tun hat. Wer ver­bin­det schon „Käse“ mit „Land­ge­win­nung“ oder die ver­schie­de­nen For­men von Inseln mit dem regio­na­len Schiff­bau, wer die Struk­tur von Pol­dern mit dem The­ma Ver­kehrs­si­cher­heit oder den Maler Clau­de Monet mit der Grün­al­ge Bli­din­gia?

Es kommt dar­auf an, nicht nur ein ein­zi­ges Ziel im Auge zu haben“, schreibt Küs­ter in sei­nen Schluss­be­mer­kun­gen über den Nach­hal­tig­keits­be­griff, „son­dern über alles infor­miert zu sein, was schüt­zens­wert sein könn­te.“ Es sind sei­ne Abschwei­fun­gen etwa in Handels-, Infrastruktur- oder Kunst­ge­schich­te, um, sie­he oben, nur weni­ge Bei­spie­le zu nen­nen, die die­ses Buch min­des­tens so viel­fäl­tig machen wie es das eigent­lich the­ma­ti­sier­te Wat­ten­meer ohne­hin ist. Ein­fach toll.

Peer Jans­sen