Czybulka, Detlef: Der Schutz unserer Meere – Gefährdungen, Chancen
und Rechtslage eines einzigartigen Ökosystems; München 2024, oekom Verlag;
Softcover, 430 Seiten; ISBN 978-3-9623-8388-6; Preis 34,00 Euro
Was für ein Buch! Um die Bilanz dieser Zeilen vorweg zu nehmen: Es ist eindeutig das Buch des Jahres für alle, die sich für Meeresumweltschutz engagieren oder interessieren. Und das aus vorrangig zwei Gründen: Zum einen bietet es einen nach augenblicklichem Stand nahezu umfassenden Ein- und Überblick über Entwicklung, aktuelle Situation und Perspektiven der Meere. Zum anderen: Obwohl es keine leichte Lese-Kost ist, sondern durchaus Konzentration erfordert, ist es sowohl für thematisch mehr oder weniger Eingeweihte als auch für „Neulinge“ eine verständliche Lektüre. Respekt!
Der Rechtswissenschaftler Detlef Czybulka hatte bis 2011 den Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Umweltrecht inne – ein Jurist, der immer schon ein Faible für die Meere hatte: Marine Biodiversität, maritime Raumplanung, Meeresnaturschutzrecht, Seerecht, Küstenzonenmanagement, Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL), Fischereipolitik, Schifffahrtsemissionen und, und, und… – es gibt kaum ein meeresbezogenes Stichwort, das nicht auf der Liste seiner Veröffentlichungen zu finden wäre.
Diese thematische Breite ist einer der herausragenden Pluspunkte dieses Buches: Ausgehend von der ebenso engagierten wie detailverliebten Schilderung der biologischen Vielfalt, die es in und an den Meeren zu schützen gilt, schlägt Czybulka einen riesigen, erklärenden Bogen, beschreibt Lebensgemeinschaften, klimatische Gegebenheiten, Strömungsbesonderheiten, regionale Strukturen und Entwicklungen, historische und aktuelle Aspekte der Schifffahrt und des Handels – und stellt all dies, illustriert durch unterhaltsame Einsprengsel, immer auch in den Kontext sowohl rechtlicher Normen (und Mängel) als auch ethischer und gesellschaftspolitischer Überlegungen.
Zwar widmet er sich dabei ausführlich den Grundlagen und Zusammenhängen verschiedener Elemente des Meeresumweltvölkerrechts im globalen, europäischen und nationalen Rahmen. Aber das hat nichts mit überbordender Leidenschaft eines Juristen zu tun, sondern entpuppt sich schnell als gezielte Grundlage für den zweiten Teil des Buches: Überfischung, Rohstoffgewinnung, Klimaschutz und Energiewende, Meeresverschmutzung durch Abfälle, Lärm und Gefahrstoffe, Perspektiven und Defizite des Meeresschutzes.
Wie bereits erwähnt: Keine leichte Lektüre, aber ungemein spannend und lehrreich, zumal Czybulka durchgängig eine packend kritische Haltung an den Tag legt und so seine qualifizierten Beschreibungen in gewisser Weise zu argumentativem Rüstzeug in politischen Auseinandersetzungen macht. Fischereipolitik, Ressourcenplünderung, Massentourismus, Offshoreinstallationen – keine die Meeresnatur missachtende Nutzungsform ist vor seiner prüfenden und gegebenenfalls tadelnden Betrachtung sicher. Und auch kein Apologet solchen Verhaltens: So wagt Czybulka es beispielsweise, Haltung und Agieren des ungekrönten „Papstes“ der deutschen Meeresforschung, Gotthilf Hempel, zu kritisieren, ihm „Industriefreundlichkeit“ zu bescheinigen und dies auch noch ausführlich zu begründen – das verdient nicht nur Hochachtung, sondern auch Dank.
Ein Wermutstropfen…
Ein Wermutstropfen in dieser mehr als berechtigten Lobeshymne über ein brillantes Plädoyer für die Meere ist leider nötig: So ausführlich sich Czybulka unter anderem mit der Entwicklung des Meeresnaturschutzgedankens in der jüngeren Vergangenheit befasst, so intensiv er immer wieder auch die „heimischen“ Meere Nord- und Ostsee als Beispielgeber für Fehlentwicklungen heranzieht – es gibt keinen Hinweis auf die massiven politischen Auseinandersetzungen der 1970er/1980er Jahre, obgleich die sowohl regionalen als auch europäischen Meeresumweltschutz maßgeblich mit geprägt haben.
Damals drohte die Nordsee zur Industriekloake zu verkommen, bis ihre Anrainerstaaten sich unter starkem zivilgesellschaftlichem Druck zur Einrichtung des Instruments der Internationalen Nordseeschutz-Konferenz (INK) genötigt sahen. Deren sechs Treffen zelebrierten anfangs teils erschreckende Verharmlosung mariner Umweltschäden, was weitere Proteste generierte. Allerdings trugen diese wiederum dazu bei, dass in den in den 1990ern teils auch markante Punkte für spätere Schutzkonzepte gesetzt werden konnten.
[Mini-Exkurs: Exemplarisch sei hier erinnert an den § 17 der INK-Deklaration von Esbjerg (1995) zur schärferen Kontrolle gefährlicher Stoffe: Dessen Umsetzungsdebatten mündeten, wenngleich geschwächt durch massiven Einfluss von Industrielobbyisten, maßgeblich in die spätere EU-Chemikalienrichtlinie REACH.]
Bedauerlicherweise lässt Czybulka diese fast 20 Jahre währende Entwicklung völlig unerwähnt; das gilt für die Regierungsebene (INK) ebenso wie für die begleitenden und treibenden Aktivitäten oppositioneller Umweltschutzbündnisse von der Aktionskonferenz Nordsee (AKN) bis zur heutigen Lobbyorganisation Seas At Risk (SAR). Schade.
Burkhard Ilschner