Der Fluch der Ostsee – Rezension

Kan­ter, Olaf: Bin­nen­meer – Band 12 der Serie „Euro­pean Essays
on Natu­re and Land­scape“; Ham­burg 2024, KJM-Buchverlag;
Hard­co­ver, 140 Sei­ten; ISBN 978-3-9619-4245-9; Preis 22,00 Euro.

Eigent­lich war das zu erwar­ten: Olaf Kan­ter – der SPIEGEL-Redakteur ist lei­den­schaft­li­cher Seg­ler und ver­narrt in die hei­mi­schen Mee­re – begnügt sich nicht mit einem Por­trät der Nord­see, son­dern nimmt sich mit die­sem Büch­lein kurz dar­auf auch die Ost­see vor.

Es ist, wie bereits mehr­fach skiz­ziert, typisch für die­se ful­mi­nan­te Rei­he der Euro­pean Essays on Natu­re and Land­scape (EENL): Zwi­schen sach­li­cher Dar­stel­lung, aktu­el­len und his­to­ri­schen Ele­men­ten sowie sub­jek­ti­ven, ja, oft emo­tio­na­len Ein­drü­cken frag­men­ta­risch wech­selnd, ent­steht ein in die­ser Form ein­ma­li­ges Bild aus­ge­wähl­ter Land­schaf­ten und Regio­nen. Ist schon die­ses ver­le­ge­ri­sche Kon­zept des KJM-Verlages von Klaas Jar­chow an sich beein­dru­ckend, ver­dient die Umset­zung Kan­ters, die Ost­see betref­fend, min­des­tens das­sel­be Prädikat.

Die Ost­see ist kein Spaß­bad – auch wenn es an man­chen Orten zur Urlaubs­sai­son den Anschein haben mag“, warnt Kan­ter vor einer all­zu leicht­fer­ti­gen Betrach­tung des „jüngs­ten Meers des Pla­ne­ten“. Und er beschreibt zum einen als teil­wei­se dras­ti­sche Bei­spie­le nicht nur zwei bru­ta­le Schiffs­un­glü­cke der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit oder das ver­hee­ren­de Sturm­hoch­was­ser vom Herbst 2023; hier­zu erläu­tert er zudem auf­schluss­reich die hydro­dy­na­mi­schen und meteo­ro­lo­gi­schen Ursa­chen, macht so das Ereig­nis und sei­ne Fol­gen all­ge­mein begreif­bar. Er greift zum ande­ren aber auch tief in die his­to­ri­sche Kis­te eines immer wie­der neu geteil­ten und stän­dig umkämpf­ten Mee­res – und dies bis in die Gegen­wart –, schil­dert Belas­tun­gen oder Bedro­hun­gen durch Herr­schafts­an­sprü­che, Nut­zungs­kon­flik­te und Res­sour­cen­gier. Indem dies immer mit kon­kre­ten, nach­voll­zieh­ba­ren Erklä­run­gen ver­knüpft ist, ent­steht so im Kon­text der ein­dring­lich beschrie­be­nen natür­li­chen Schön­hei­ten ein wei­te­res Buch, das idea­les Geschenk für inter­es­sier­te, infor­ma­ti­ons­hung­ri­ge Lai­en sein kann.

Anders als bei dem Vor­gän­ger­werk über die Nord­see basiert Bin­nen­meer zu einem beträcht­li­chen Teil auf sehr per­sön­li­chen Erfah­run­gen. Der Autor hat die Ost­see knapp 2000 Kilo­me­ter und drei Mona­te lang in einem Neun-Meter-Segelboot nahe­zu kom­plett umfahren:

  • von Kiel gen Osten, ent­lang der meck­len­bur­gi­schen, pom­mer­schen und pol­ni­schen Küsten;
  • dann in einem Bogen an der rus­si­schen Exkla­ve Kali­nin­grad vor­bei ins litaui­sche Klai­pe­da, wei­ter ent­lang der bal­ti­schen Gestade;
  • erneut rus­si­sche Gewäs­ser aus­klam­mernd nach Hel­sin­ki, von Finn­land hin­über nach Schweden;
  • und schließ­lich ent­lang des­sen Süd­ost­küs­te via Däne­mark zurück nach Kiel.

Über etli­che Sta­tio­nen die­ser Rei­se erzählt Kan­ter Epi­so­den in ein­ge­streu­ten Kapi­teln, ins­ge­samt aber dürf­ten die Ein­drü­cke die­ser Tour maß­geb­lich die the­ma­ti­sche Viel­falt die­ses Buches mit geprägt haben.

Exem­pla­risch für den oben gelob­ten Erklärm­odus sei hier auf das Kapi­tel über die Ent­ste­hung der Ost­see ver­wie­sen: Stark kom­pri­miert und den­noch äußerst klar unter­nimmt Kan­ter eine Zeit­rei­se, die 540 Mil­lio­nen Jah­re vor unse­rer Zeit­rech­nung beginnt und bis in die „geo­lo­gi­sche Gegen­wart“ führt, als vor rund 9250 Jah­ren (vor Null) der „Bal­ti­sche Eis­stau­see“ eine Ver­bin­dung zum Ska­ger­rak erhielt – dies war der Beginn jenes Brackwasser-Binnenmeers, das heu­te den einen als „Ost­see“ und ande­ren als „Bal­ti­sches Meer“ ver­traut ist. „So, wie wir sie heu­te ken­nen, …exis­tiert sie gar erst seit 7000 Jah­ren.“ Ori­gi­nell sind dabei auch die Abschwei­fun­gen, in wel­chen Län­dern die­ses Meer denn war­um unter wel­chem Namen bekannt ist.

Dem Kon­zept der Buch­rei­he ent­spre­chend, lie­fert Kan­ter eine Palet­te his­to­ri­scher Frag­men­te, natür­li­cher Gege­ben­hei­ten, anthro­po­ge­ner Gefähr­dun­gen und per­sön­li­cher Ein­drü­cke, immer um Ein­ord­nung des einen in Ent­wick­lun­gen des ande­ren bemüht. Dazu zäh­len – um nur weni­ge Bei­spie­le auf­zu­zäh­len – Epi­so­den aus der Zeit sowohl des Zwei­ten Welt­kriegs als auch des so genann­ten Kal­ten Krie­ges, selbst­ver­ständ­lich auch aus der Wikinger- oder Hanse-Zeit oder schwedisch-russischer Krie­ge frü­he­rer Jahr­hun­der­te. Die Dar­stel­lung, was die aktu­ell aggres­si­ve Poli­tik des Putin’schen Russ­land für die Ost­see bedeu­ten kann, bleibt lei­der ein­sei­tig, indem sie den Expan­sio­nis­mus des „Wes­tens“ uner­wähnt lässt. Dafür begeis­tern aber auf­schluss­rei­che, gekonnt populär-wissenschaftliche Beschrei­bun­gen etwa zu Wind, Wel­len, Strö­mun­gen, Wan­der­dü­nen oder Küs­ten­for­men eben­so wie Dar­stel­lun­gen einer beein­dru­ckend schö­nen Natur. All dies reiht sich naht­los ein in ernüch­tern­de War­nun­gen vor Rück­sichts­lo­sig­kei­ten, die die­se Schön­heit zu ver­nich­ten dro­hen: mas­si­ve Indus­tria­li­sie­rung, aus­beu­te­ri­sche Fische­rei, über­dün­gen­de Land­wirt­schaft, gif­ti­ge Alt­las­ten und etli­che wei­te­re schäd­li­che Nut­zun­gen fin­den sich in die­ser erschre­cken­den Beispielreihe.

Obwohl Kan­ter punk­tu­ell auch schär­fe­re Wor­te der Kri­tik an Zustän­den und Ver­hal­tens­wei­sen wählt, soll hier die­ses Zitat Abschluss – und Lese­an­reiz – bil­den: „Es ist der Fluch der Ost­see, dass sie nicht ein­fach Land­schaft ist, dass sie nicht ein­fach Lebens­raum sein darf. Sie ist heu­te Roh­stoff­lie­fe­rant, Pro­duk­ti­ons­fak­tor, Stand­ort für Infra­struk­tur. In einem Report über den öko­lo­gi­schen Zustand der Ost­see behaup­tet ein Büro­krat vor Kur­zem stolz, sie sei das ‚am bes­ten gema­nag­te Meer der Welt‘. Meer und Manage­ment – kann es einen grö­ße­ren Gegen­satz geben?“  Ein Satz, der eigent­lich für alle Mee­re gel­ten sollte.

Burk­hard Ilschner