Vom Meer genommen – Rezension

Fischer, Nor­bert: Marsch­land – Band 15 der Serie „Euro­pean Essays
on Natu­re and Land­scape“; Ham­burg 2024, KJM-Buchverlag;
Hard­co­ver, 134 Sei­ten; ISBN 978-3-9619-4246-6; Preis 22,00 Euro.

Marsch­land ist vom Men­schen gemacht“, schreibt Fischer auf einer der ers­ten Sei­ten sei­nes Büch­leins, „ist vom Meer genom­men wor­den“. Viel tref­fen­der kann man es kaum beschrei­ben: Die Rede ist von Gebie­ten, die sehr, sehr lan­ge von Gezei­ten geprägt und daher in peri­odi­schem Wech­sel mal Land und mal Meer gewe­sen sind – bevor der Mensch sie durch Warf­ten, Dei­che, Schleu­sen, Prie­le und etli­che wei­te­re Land­schafts­bau­maß­nah­men dem unmit­tel­ba­ren Ein­fluss von Ebbe und Flut ent­zog. Wobei es als typisch anthro­po­zen­trisch ange­se­hen wer­den darf, dass die­se meist mas­si­ven Ein­grif­fe in die Natur in den Marsch­lan­den selbst umgangs­sprach­lich als „Küs­ten­schutz“ gehan­delt wer­den: „All mien“, sagt man auf platt­deutsch dazu.

Der Ham­bur­ger Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Nor­bert Fischer „outet“ sich mit die­sem wei­te­ren Band der erfolg­rei­chen Serie „Euro­pean Essays on Natur and Land­scape“ als ein eben­so begeis­ter­ter wie begeis­tern­der Fan der Marsch­lan­de, kon­zen­triert sich dabei in sei­ner Betrach­tung auf die deut­sche Nord­see mit ihren Fluss­mün­dun­gen, Hal­li­gen und Inseln; ande­re Mar­schen wie etwa an der bri­ti­schen oder nie­der­län­di­schen Küs­te wer­den nur gestreift. Detail­ver­liebt, aber allgemein-verständlich beschreibt er, was Marsch­land dank jahr­hun­der­te­lan­gen Mee­res­ein­flus­ses als frucht­ba­re und damit ertrag­rei­che Kul­tur­land­schaft bedeu­tet, wie es aber trotz per­ma­nen­ter Kon­flik­te auch Hei­mat viel­sei­ti­ger Fau­na und Flo­ra geblie­ben ist. Er schil­dert, wie der Mensch es nutz­bar gemacht und sich unter­wor­fen hat, wie vie­le – aber längst nicht alle – dadurch wohl­ha­bend wur­den. Er lie­fert zudem vie­le Bei­spie­le für die „jahr­hun­der­te­lan­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Was­ser“, wie das Meer sich immer wie­der mal ein Stück Land zurück zu holen ver­sucht, dabei Spu­ren hin­ter­lässt und doch wie­der zurück­ge­drängt wird. Es fällt aller­dings auf, dass die­se Aus­ein­an­der­set­zung ganz über­wie­gend his­to­risch betrach­tet wird; mög­li­che künf­ti­ge Ent­wick­lun­gen etwa in Fol­ge des Kli­ma­wan­dels fin­den nur spär­li­che Erwähnung.

Obwohl Fischers Aus­füh­run­gen durch flüs­si­ge Schrei­be glän­zen, fällt doch auf, dass sie sowohl geo­gra­phisch als auch zeit­lich sehr sprung­haft über­kom­men; von einer „Glie­de­rung“ im her­kömm­li­chen Sin­ne mag man kaum reden. Sprung­haft heißt: Schnel­le Wech­sel zwi­schen Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit, zwi­schen ver­schie­de­nen Orten und Regio­nen, schnel­le Mischung von Begeg­nun­gen mit ein­zel­nen Akteu­ren, Aus­flü­gen in die Welt der Tech­nik, Abschwei­fun­gen in die Lite­ra­tur oder den Natur­schutz. Klingt ver­wir­rend? Mag sein, macht aber nichts, denn alles in allem gilt für die­ses Buch die anspre­chen­de Kurz­for­mel: „Das liest sich so weg.“

Unterweser-Insel Har­rier­sand
(Aus­schnitt, gedreht)
© Bun­des­an­stalt f. Was­ser­bau - wiki­me­dia commons

In man­chen Details lässt der Autor aller­dings gesell­schafts­po­li­ti­sche Genau­ig­keit – oder Sorg­falt? – ver­mis­sen. Wenn er etwa die Fluss­in­sel Har­rier­sand als eine „Marsch­in­sel in der Unter­we­ser“ beschreibt, ist das irre­füh­rend, denn Har­rier­sand ist erst zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts im Zuge einer frü­hen schiff­fahrts­po­li­ti­schen Weser­ver­tie­fung aus sie­ben ein­zel­nen Inseln „gemacht“ wor­den. Wenn er wie­der­holt den Unterweser-„Marschendichter“ Her­mann All­mers lobend her­vor­hebt, wäre ein min­des­tens knap­per Hin­weis auf des­sen teil­wei­se völ­ki­sche Ansich­ten gera­de in heu­ti­ger Zeit ange­bracht gewe­sen. Und wenn er die „umstrit­te­ne … Erwei­te­rung des … ‚Airbus‘-Flugzeugwerks in Fin­ken­wer­der“ als ein Zeug­nis für die Indus­tria­li­sie­rung des Alten Lan­des anführt, ist das zwar kor­rekt – aber die anhal­ten­den Pro­ble­me der Regi­on durch die neun Elb­ver­tie­fun­gen in die­sem Kon­text nicht zu erwäh­nen, ist fahrlässig.

Eines noch: Natür­li­che Gege­ben­hei­ten wie auch Men­schen in unter­schied­li­chen Marsch­lan­den las­sen sich sel­ten ein­fach so ver­all­ge­mei­nern oder umge­kehrt lokal ein­gren­zen. Das hat Fischer lei­der nicht immer deut­lich berück­sich­tigt. Wenn er etwa kate­go­risch fest­hält, der Begriff „Siel“ sei „allein west­lich der Weser“ gebräuch­lich, so irrt er. Oder: Wenn er aus dem Land Keh­din­gen berich­tet, dort sei­en „alle Haus­num­mern … chro­no­lo­gisch nach dem Errich­tungs­da­tum des Gebäu­des ver­ge­ben und nicht nach der Rei­hung an den Stra­ßen“, wäre ein Hin­weis, dass dies nicht unein­ge­schränkt gilt, son­dern frü­her auch anders­wo üblich war, durch­aus ange­bracht. Oder: Eine Aus­sa­ge, dass ein mit Reet gedeck­tes Dach „frü­her eher ein Aus­druck von Armut war“, wird in vie­len Marsch­lan­den durch die alten Häu­ser rei­cher Mar­schen­bau­ern wider­legt. So gese­hen, ist es im Grun­de genom­men irre­füh­rend, die­ses attrak­ti­ve Buch „Marsch­land“ zu nen­nen – denn der Plu­ral „Marsch­lan­de“ wäre ange­sichts der Viel­falt und Wech­sel­haf­tig­keit die­ser Gebie­te viel ange­brach­ter gewesen.

Trotz alle­dem: Nie­man­dem soll hier wegen über­bor­den­der Akri­bie der Spaß an der Lek­tü­re die­ses flot­ten Büch­leins ver­dor­ben wer­den. Denn das liest sich echt so weg…

Burk­hard Ilschner