1. Fünf Minuten vor Zwölf, so stand es 1980 im Bonner Sachverständigen-Gutachten, zeigt die Überlebensuhr der Nordsee; höchste Zeit für konsequente Maßnahmen, höchste Zeit für ein grundlegendes Umdenken im Umgang mit dem Meer. Bürgerinitiativen, Natur- und Umweltschutzverbände aus der Bundesrepublik Deutschland und den anderen Nordsee-Anrainerstaaten haben diese Warnung wie auch konkrete Forderungen zur Rettung der Nordsee in den vergangenen Jahren immer wieder aufgegriffen. Sie haben es geschafft, einer breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein und die Einsicht zu vermitteln, dass längeres Warten den unausweichlichen ökologischen Tod der Nordsee bedeutet. Dennoch: Politisch ist nicht viel passiert. Die Initiativen und Verbände rufen deshalb auf, sich Ende Oktober 1984 in Bremen zu versammeln, um die vorhandenen Kenntnisse zusammenzutragen und auszutauschen, um politischen Druck zu erzeugen – und die Verantwortlichen zum Handeln zu zwingen: Die Bürgerinitiativen und Verbände rufen auf zur AKTIONSKONFERENZ NORDSEE (AKN).
2. Ebenfalls Ende Oktober findet (ebenfalls in Bremen) eine weitere Nordsee-Tagung statt: die INTERNATIONALE NORDSEE-SCHUTZKONFERENZ (INSK*). Der deutsche Bundesinnenminister Zimmermann hat dazu die Umweltminister der Nordsee-Anrainerstaaten eingeladen. Aber: An ein tatsächliches Forum zur Rettung der Nordsee hat er dabei kaum gedacht – Bürgerinitiativen sind für ihn keine Gesprächspartner, sie hat er ignoriert: mit den Natur- und Umweltschutzverbänden hat er zwar gesprochen – sie aber gleichzeitig in die Schranken verwiesen: Vorschläge seien willkommen, Forderungskataloge unerwünscht. Selbst Wissenschaftler dürfen nur zu einem Hearing der Staatssekretäre erscheinen, nicht aber zur Konferenz. Dafür ist die Tagesordnung der INSK zusammengestellt nach dem Muster, das man ironisch als ‚Europäische Norm‘ bezeichnen kann: Strittige Themen und Konfliktfragen sind ausgeklammert, gefragt ist der politische Konsens um jeden Preis – selbst um den Preis der Erfolglosigkeit.
3. Ausgeklammert haben die INSK-Veranstalter das Thema Industrieansiedlungen an der Küste, ebenso das Problem Landgewinnung durch Vordeichung und Küsten‑‚Schutz‘. Anders als bei Schifffahrt, Fischerei oder Ölsuche, die jeder Staat auch vor des anderen Küste, in des anderen Gewässern betreiben möchte, und wo demzufolge auch gegenseitige Regelungen und Abkommen nötig scheinen, stoßen bei Industrieansiedlung und Landgewinnung die nationalen Interessen trotz aller „Europa“‑Parolen unversöhnlich aufeinander. Die Tagesordnung der INSK macht deutlich: Solange das wirtschaftliche Interesse auf möglichst hohe und kurzfristige Gewinne zielt statt auf die Bedürfnisse der Menschen, wird der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen den Interessen der Ökonomie untergeordnet. Die Veranstalter der AKN wollen diesem Anspruch der INSK ihr Programm entgegensetzen: die Nutzung des Ökosystems Nordsee gerade durch Erhaltung und Pflege seines natürlichen Zustandes.
4. Zum Beispiel Industrie-Ansiedlung und Hafenbau: Die AKTIONSKONFERENZ NORDSEE häIt die ständige und andauernde Vernichtung natürlicher und zum Teil biologisch einzigartiger Küstenregionen zur Erschließung immer neuer Ansiedlungsflächen für unverantwortlichen Raubbau. Gleiches gilt für nordseenahe Flussufer und -mündungen. Es muss – in allen Nordsee-Anrainerstaaten – Schluss gemacht werden mit einer Wirtschaftspolitik, die jedes Land dazu zwingt, riesige Flächen ‚bereitzuhalten‘ – nur um dem anderen Land den eventuellen Ansiedlungs-Bewerber abjagen zu können. Diese Politik führt zum ökologischen Tod weiter Teile der Nordseeküste, ohne dass seitens der Industrie überhaupt eine entsprechende Nachfrage vorhanden wäre. Die AKN fordert für künftige wie auch für alle bestehenden Industriekomplexe eine Umweltverträglichkeitsprüfung ihrer Produktion und ihrer Emissionen. Die vielzitierte Schaffung von Arbeitsplätzen ist sinnlos, wenn den arbeitenden Menschen kein Leben in gesunder Umwelt ermöglicht wird.
5. Zum Beispiel Schadstoffe: Die Nordsee und die in sie mündenden Flüsse dürfen nicht als Müllkippen der Anrainerländer missbraucht werden. lns Meer gehören weder Dünnsäure noch radioaktiver Abfall; in die Flüsse gehören weder ungeklärte kommunale Abwässer noch Industriemüll, weder Schwermetalle noch chlorierte Kohlenwasserstoffe, weder Phosphat- noch Nitratverbindungen. Flüsse und Meere sind natürliche Ökosysteme, die auf natürliche Weise nur mit den Schadstoffen fertig werden, die die Natur selbst erzeugt. Wer ihnen Wasser entnimmt, muss garantieren, dass dieses Wasser in gleicher Menge und in gleicher Beschaffenheit wieder zurückgeführt wird – und nicht verbleit, verpestet, vergiftet oder unnatürlich aufgewärmt. Für die Luft muss gleiches gelten: Luftverschmutzung tötet nicht nur die Wälder – auch die Nordsee leidet. Es ist die Aufgabe der nationalen Regierungen, für Erlass und Einhaltung entsprechender Vorschriften zu sorgen – und für eine gerechte Kostenregelung: Wer Abfall, gleich welcher Art, produziert, zahlt für seine umweltneutrale Beseitigung.
6. Zum Beispiel Meeresnutzung: Wir brauchen die Schifffahrt, aber es darf uns nicht egal sein, wenn Öl, chemische Abfälle und Müll einfach außenbords gekippt werden. Es ist die Pflicht der Hafenstädte, allen Schiffen eine kostengünstige Entsorgung all ihrer Abfälle anzubieten – und im Interesse der Umwelt von allen Schiffen die unbedingte Nutzung dieses Angebots zu verlangen. Die Ausbeutung von Ölvorräten und allen anderen Meeresbodenschätzen hat unter unbedingter Prüfung der Umweltverträglichkeit der jeweiligen Abbau-Technologie zu erfolgen, die Sicherheitsbestimmungen sollen nicht die Unternehmensbilanz, sondern in erster Linie den Menschen und die Umwelt schützen. ln den besonders empfindlichen Küstenregionen hat jede Ausbeutung nicht-lebender Ressourcen zu unterbleiben. Grundlage aller Meeresnutzung muss die lnternationale Seerechts-Konvention sein, die von allen Nordsee-Anrainern sofort zu ratifizieren ist.
7. Zum Beispiel Küstenschutz: Jeglicher Deichbau hat unter ausschließlicher Abwägung zwischen Sicherheit des Menschen und Schutz der Natur zu erfolgen. Vor den notwendigen Deichen ist die natürliche Landschaft zu belassen, damit Tier- und Pflanzenwelt sich ungestört entwickeln können. Vordeichungen und künstliche Küstenbegradigungen haben zu unterbleiben. Die Fremdenverkehrsindustrie muss lernen, dass nur eine natürliche Landschaft die Küstenregion für den Urlauber attraktiv macht. Die Fischerei muss aus ihrem eigenen lnteresse dafür sorgen, dass nicht einige Große aus ihren Reihen durch ausufernde Quotenregelungen und rücksichtslose Methoden die Existenzgrundlage der gesamten Branche zerstören; diejenigen Fischer, die eine solche Politik anerkennen und durchsetzen, verdienen die Unterstützung aller. Das Wattenmeer als weltweit einzigartiges Biotop ist zu einem Schutzgebiet zu erklären, in dem der Naturschutz ohne Wenn und Aber Vorrang hat.
8. Für alle Maßnahmen und Handlungen, die die Nordsee und die in sie mündenden Flüsse betreffen, sind Prinzipien gesetzlich zu verankern, und zwar in allen Anrainerstaaten, die den Schutz der Ökosysteme über vordergründige wirtschaftliche lnteressen stellen. Auch militärische Aktivitäten auf und an der Nordsee haben auf diese Schutzinteressen Rücksicht zu nehmen. Jede Nutzung von Nordsee und Flüssen, von Ufern und Küsten ohne vorher nachgewiesene Unschädlichkeit hat zu unterbleiben. Bei allen unvermeidbaren Einleitungen oder Nutzungen haftet der Verursacher uneingeschränkt für deren Unschädlichkeit. Für die Entsorgung und Beseitigung von so genannten Altlasten haften die politisch Verantwortlichen, es steht ihnen aber frei, sich an Verursachern, soweit noch feststellbar, schadlos zu halten. Aufgabe aller Nordsee-Anrainerstaaten ist es, internationale Forschungsprogramme zu koordinieren. Ziel dieser Forschungsprojekte muss es sein, jede Nutzung der Nordsee auf ihre Auswirkung und Folgen für das Ökosystem zu untersuchen und Wechselwirkungen verschiedener Nutzungen zu prüfen.
9. Den Wissenschaftlern ebenso wie den Bürgerinitiativen, Natur- und Umweltschutzverbänden sind alle verfügbaren Daten über Umweltbelastungen öffentlich zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört die Offenlegung aller Einleitungs- und Verklappungsgenehmigungen ebenso wie das Recht auf Einsichtnahme in Prüf- und Messprotokolle. Bürgerinitiativen, Verbänden und Forschungsinstituten ist in allen Anrainer-Ländern das Recht auf Verbandsklage gegen entsprechende Genehmigungen einzuräumen; Klageberechtigungen nur bei Nachweis der individuellen Betroffenheit zu erteilen heißt, weiterhin mit dem Erhalt des Ökosystems Nordsee zu pokern. Es ist die vorrangige Aufgabe der in den koordinierten Forschungsprogrammen tätigen Wissenschaftler, ein Gesamtkataster für die Nordsee und ihre Küstenregionen zu erstellen. Dieser Kataster und die aus ihm sich ergebenden Vorschläge der Experten zur Verbesserung des Gütezustands des Meeres ist in allen Anrainer-Staaten auf politischem Wege zum allein verbindlichen Maßstab aller Nutzung von Meer und Flüssen zu erklären.
10. lm internationalen Rahmen aller Nordseeanrainer sind wirksame und unabhängige Kontrollen zu schaffen. Es sind dafür Organisationsformen zu finden, die die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Wissenschaftler und der Kontrolleure von nationalen, ökonomischen und politischen Interessengruppen absolut gewährleisten. Die Anrainerstaaten müssen lernen, dass ohne eine sachlich begrenzte Abtretung ihrer jeweiligen Hoheitsrechte an diese Untersuchungs- und Kontrollorganisation diese Unabhängigkeit nicht zu garantieren ist. Eine wirksame Kontrolle aus der Luft, zur See und an Land ist nur möglich, wenn zum einen alle technisch verfügbaren Kontrollmethoden im gesamten Nordseegebiet zum Einsatz kommen und wenn zum anderen die Kontrolleure und die sie tragende Organisation über wirksame Möglichkeiten verfügen, jeden Verstoß empfindlich zu ahnden.
Die AKTIONSKONFERENZ NORDSEE wird dieses Programm beraten und die hier angerissenen Forderungen konkretisieren.
Die AKTIONSKONFERENZ NORDSEE wird die Umweltminister auffordern, dieses Programm zum Maßstab ihrer Politik zu machen – oder öffentlich zu erklären, warum sie dazu nicht willens sind.
Anmerkung:
* Anfangs – bei Veröffentlichung dieses Ausrufs – war „INSK“ die amtliche Abkürzung des Begriffs „Internationale Nordseeschutz-Konferenz“; angeblich auf Betreiben der Briten, die sich an der Buchstabenkombination „NS“ gestört haben sollen, wurde die Abkürzung dann in „INK“ geändert.