Gerstenberger, Heide, und Welke, Ulrich; Vom Wind zum Dampf – Sozialgeschichte der deutschen
Handelsschiffahrt im Zeitalter der Industrialisierung; 329 Seiten, div. Abbildungen;
Verlag Westfälisches Dampfboot; Münster 1996; ISBN 3-9295-8685-1; Preis 98 D-Mark.
Es gibt Bücher, die stellt man gerne vor, und es gibt Bücher, da ist die Rezension – aus welchen Gründen auch immer – eine Pflicht. Und es gibt dieses Buch von Heide Gerstenberger und Uli Welke von der Universität Bremen, da ist die Besprechung ein Muss, das man geradezu mit Begeisterung erfüllt. Denn diese Rezension kann ohne Übertreibung begonnen werden mit den schönen Worten: „Es stand in der WATERKANT…“
„Der gemeine Seemann ist ein vernünftiger, brauchbarer Mensch“, haben wir im Jahre 1992 eine dreiteilige Artikelserie mit einem Zitat von Gerstenberger und Welke überschrieben, eine Serie, die sich unter dem Motto „Technik und Tradition“ mit der „Industrialisierung der Arbeit an Bord“ befasste, mit einer sowohl sachlichen als auch bunten „Geschichte der Arbeit an Bord“. WATERKANT hat im Laufe seines mittlerweile zehnjährigen Werdegangs viele Themen „angefasst“. Aber selten hat eine Beitragsreihe so viele Nachfragen ausgelöst und auch Anregungen sowie weitere Artikel anderer AutorInnen nach sich gezogen wie diese Serie.
Die Veröffentlichung von Gerstenberger und Welke in der WATERKANT war keine Exklusiv-Geschichte, beide hatten ihre Forschungsergebnisse zuvor schon an anderer Stelle publiziert. Aber sie hatten sich die Mühe gemacht, aus ihren umfangreichen Unterlagen speziell für unser Blatt eine flüssig lesbare und trotz aller Knappheit rundum informative Reihe zusammenzukürzen, eine zweiteilige Folge, die damals durch einen Beitrag des Bremer ÖTV-Sekretärs Jan Kahmann über die Arbeit an Bord in Zeiten der Globalisierung, der Billigflaggen und der Zweitregister ergänzt wurde.
Und nun dieses Werk: Es ist ohne Übertreibung eines der am besten gemachten Fachbücher, die ich kenne. Denn wie kaum ein anderes präsentiert es die umfangreich recherchierte Geschichtsdarstellung mit ihren vielfältigen Dokumenten und ihren zeitgenössischen Quellen in gleichermaßen spannender wie unterhaltsamer Art. „Vom Wind zum Dampf“ ist ebenso eine knallharte Faktensammlung wie ein Lesebuch, ein „Schinken“, den man wahlweise von der ersten bis zur letzten Seite samt aller Anmerkungen studieren, den man aber auch bloß durchblättern kann, um ihn sich auszugsweise „reinzuziehen“. Wobei es garantiert nicht beim einmaligen Durchblättern bleibt, die übersichtliche Struktur und ein sorgfältiges Register machen das Buch zu einem immer wieder heranzuziehenden Nachschlagewerk. Allgemeinverständliche, in den laufenden Text eingeflochtene Erläuterungen lassen sowohl gewissenhaftes Studium als auch flüchtige Lektüre selbst für „Landratten“ fast mit Leichtigkeit zu.
Zum detaillierten Inhalt des Buches ist an dieser Stelle, in der WATERKANT, wenig zu sagen; Heide Gerstenberger und Ulrich Welke widmen sich der Beschreibung eines harten Berufs, der in unendlich vielen Geschichten und Fabeln glorifiziert und oft über Gebühr schöngeschrieben worden ist. Sie schildern den Alltag der Seeleute in den vergangenen Jahrhunderten im Zusammenhang mit den ökonomischen Bedingungen, denen der Frachttransport über die Meere unterlag (beziehungsweise unterworfen wurde). Sie berücksichtigen die Entwicklung sowohl der jeweiligen politischen Verhältnisse als auch der Herrschafts- und Machtverhältnisse an Bord. Sie entkleiden das Berufsbild seiner operettenhaften Verherrlichungen und haben trotzdem eine Liebeserklärung an den Seemanns-Beruf verfasst.
Was man nach Lektüre dieses Buches vermisst, ist ein Ausblick. Man empfindet Wut über die oft unmenschlichen und noch öfter „nur“ ungerechten Verhältnisse, unter denen Seeleute ihrer gefahrvollen und entbehrungsreichen Arbeit nachgegangen sind. Man empfindet ein bisschen Wehmut, dass die anderen, die interessanten, ja, vielleicht auch schönen Seiten dieses Berufes unter heutigen Verhältnissen immer mehr verlorengehen. Und es bleibt die Frage, wie es weitergehen soll und kann. Aber die zu beantworten, ist nicht die Aufgabe von zwei Historikern. Die haben uns mit ihrem Buch die Grundlagen in die Hand gegeben, denn diese Antwort zu finden (und durchzusetzen), sollte unser aller Aufgabe sein.