Schätzing, Frank: Der Schwarm; Roman; gebunden, 998 Seiten; Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004; ISBN 3-4620-3374-3; Preis 24,90 Euro
Nein, dies ist kein schönes Buch. Es ist kein Buch auf Nemo-Niveau, keine seichte Delphin-Unterhaltung und keine schönfärberische Idee vom Leben unter der (Wasser-)Oberfläche. Es heißt ”Der Schwarm” und es geht nicht um Fische, es ist kein Reiseführer und kein normaler Roman. Es ist von all dem das Gegenteil und das unerwartet und wahnsinnig.
Es geht in Jetzt-Zeit um nichts Geringeres als um die Rettung der Erde und damit natürlich um die Errettung der Menschheit. Nach einem vermeintlich harmlosen Beginn und dem ziemlich stillen Tod eines peruanischen Fischers nimmt die Geschichte rasant Fahrt auf. Alles beginnt aus dem Ruder zu laufen (beziehungsweise in es hinein…), und nach und nach bekommt die Katastrophe an ganz unterschiedlichen Plätzen der Erde ein Gesicht.
Bisher unbekannte Würmer werden an Norwegens Kontinentalhang entdeckt und halten das geplante Ölbohr-Vorhaben des norwegischen Staatskonzerns Statoil auf, weil ihre ökologische Funktion noch ungeklärt ist. Ökologische Funktion? Diese Würmer destabilisieren das Dutzende Meter starke Methanhydrat am Meeresboden! Die Wale vor Kanadas Westküste bleiben erst aus, um dann im Wesen verändert zurückzukehren, während in Frankreich Menschen an einer Invasion von Killeralgen sterben und die Gewässer um Australien zu einer giftigen Quallensuppe geworden sind. Aber was ist denn passiert? ”Etwas” will offenbar nicht mehr, dieses ”Etwas” hat genug und macht kein großes Gewese darum, sondern schlägt zu: Die ozeanische Apokalypse!
Die fest zementierten Ansichten über das Werden und Sein der Welt führen im Laufe dieser Geschichte folgerichtig dazu, dass hinter den zerstörerischen Angriffen Akte terroristischer Extremisten vermutet werden. Aber die ökologische Komplexität, die Gleichzeitigkeit und die abgrundtiefe Perfektion der Vernichtungswelle lassen diese Lösung hinter einer viel wahrscheinlicheren Möglichkeit verblassen: Was, wenn wir hier keine Naturkatastrophen erleben, sondern Zeugen werden vom Krieg zwischen zwei Planeten? Zwei Planeten, die wir nur als solche nicht erkennen, weil sie zu einem verschmolzen sind?
Was, wenn es zwei grundverschiedene Systeme intelligenten Lebens auf diesem Planeten gibt? Und was, wenn die da unten mit einiger Berechtigung stinksauer auf uns sind? Diese Gedanken und zahlreiche mehr von ähnlicher Tragweite werden im Buch von den ”Helden” des Romans gedacht und ausgesprochen: vom indianischen Walforscher Leon Anawak aus Vancouver Island (Kanada), dem Norweger Sigur Johanson, der noch beim Untergang der Erde einen guten Bordeaux nicht verschmähen würde, oder der britischen Wissenschaftsjournalistin Karen Weaver. Gemeinsam mit einer Reihe weiterer, handverlesener Expertinnen und Experten – Hirnakrobaten allesamt – kommen sie Schritt für Schritt der unglaublichen Auflösung näher. Und zu eben diesem Zweck werden sie unter der strengen Führung der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zusammengetrommelt.
Meereswissenschaft – hochaktuell
Was wir hier 1000 Seiten stark in den Händen halten, steckt voller hochaktueller meereswissenschaftlicher Erkenntnisse und ökologischer Herausforderungen quer durch alle Disziplinen. Und weil es für die Leserschaft ein mühseliges Vorhaben wäre, sich durch alle seine grundgenauen Recherchen zu ackern, strickt der Autor um die teilweise sehr ausführlichen Abhandlungen sehr interessante Dialoge und Diskussionen zwischen seinen Protagonisten. Einige von ihnen erscheinen sogar in ihrer realen Identität, wie beispielsweise die Professoren Gerhard Bohrmann von der Universität Bremen oder Erwin Suess vom ehemaligen Kieler Forschungszentrum GEOMAR. So werden wir parallel zur weltumspannenden Zerstörung mitgenommen auf eine Reise um die Welt.
Und Schätzing lässt alle Meereswisser zu Wort kommen: Die Ökologinnen und Ökologen, Mikro- und Makrobiologen, Meeresgeologen, Walforscher und selbst die Forschung nach außerirdischem Leben spielt keine unwichtige Rolle. Sie beginnen, ihr Wissen zusammenzufassen, denn eines scheint klar zu sein: Nur über die Vernetzung der Erkenntnisse aller können sie der Ursache auf die Spur kommen. Wer löst die Katastrophen aus? Wer steuert diese Attacken?
Hier liegt eine der Stärken des Buches: „Die Wissenschaft hat festgestellt: Die Tiefsee ist noch nicht erhellt“ – was wie ein plumper Reim klingt, bringt uns zu der Einsicht, dass es bisher eigentlich nur sehr wenige Sicherheiten gibt, mit denen wir über Leben in der Tiefsee sprechen dürfen. Wenn wir mit bemannten oder unbemannten Unterwasser-Fahrzeugen aufwändig, plump und viel zu laut in die Dunkelheit von mehreren Kilometern Meerwasser hinabsteigen, dann wartet dort überhaupt nichts darauf, vom Menschen entdeckt zu werden. Alles, was dort leben mag, wird immer schon verschwunden sein oder sich eben jenseits dieses mickrigen Lichtkegels aufhalten, den wir zu unserer eigenen Erleuchtung mitgebracht haben.
Wichtiger Anstoß
Frank Schätzing hat mit seinem Buch etwas geschaffen, was womöglich weiter reichende Konsequenzen für das Denken in ökologischen Zusammenhängen, für das Beurteilen und das Setzen von Prioritäten haben könnte als internationale Abkommen und Kongresse. Aber eine gut konstruierte Geschichte mit viel Spannung und einem Anspruch auf Authentizität kann nicht mehr sein als der Anstoß zu dem, was unsere Aufgabe ist: Dem ökologischen (Ge)Wissen endlich Taten folgen zu lassen.
Es ist ein Buch über unsere Werte, wie sie zustande kommen und weshalb wir sie hinterfragen sollten. Es ist auch ein Buch über Intelligenz, über die Frage, wer sie definiert, und dass alles, was als intelligent bezeichnet wird, dies nur in direkter Abgrenzung zur Bewusstseinsleistung von uns Menschen sein darf. Vor allem also ist es ein Buch über uns: Über unser Streben nach Höherem bei gleichzeitigem Verlust von Tiefgang. Über unseren fast pathologischen Wunsch, „oben“ zu sein: Die Krone der Schöpfung, das Ebenbild Gottes. Darüber, dass wir das Weltall besser kennen als die Tiefen unserer Ozeane. Über die Frage nach der wahren Rolle des Menschen in der Evolution und ob wir nicht nur ein Experiment von vielen sind, nicht besonders erfolgreich, nicht besonders gelungen.
Es ist ein Buch über Bewusstsein, Kultur und Fehler. Über Evolution, Lernen und Intrigen, voller psychologischer und politischer Dramen mit einem atemberaubenden Schluss. Ein Buch, das den Puls in die Höhe treibt, wenn die Welle sich bricht, weil die Spannung in jeder Haarwurzel ankommt. Ein tolles Buch. Kein schönes.
Autorin: Karoline Schacht