Fischer, Ludwig, und Reise, Karsten (Hrsg.): Küstenmentalität und Klimawandel – Küstenwandel als soziale und kulturelle Herausforderung; oekom Verlag, München 2011; 226 Seiten; ISBN 978-3-8658-1221-6; Preis 34,90 Euro.
Ein schwimmender Zentralhafen in der Nordsee für Warenaustausch zwischen Gigalinern und kleinen, flexiblen Feedern? Flussmündungen, die als Schifffahrtsstraßen nicht mehr gebraucht und deshalb renaturiert würden? Transportable Häuser als angemessener Baustil für sich verändernde Küsten und wandernde Inseln? – Das sind einige Stichworte aus der Abteilung „Visionen“, die anderen Kapitel dieses Buches sind aber handfester.
Kontroversen um angemessene Strategien im Umgang mit dem zu erwartenden Anstieg des Meeresspiegels“ waren der Anlass für einen Kongress, der im Februar 2010 WissenschaftlerInnen und KüstenbewohnerInnen auf Sylt an einen Tisch brachte und am Beispiel Wattenmeerküste über die „Herausforderung Küstenwandel“ debattieren ließ. Aus dieser Tagung entstand der nun vorliegende Band, herausgegeben von dem Kulturforscher Ludwig Fischer und dem (WATERKANT-LeserInnen bekannten) Leiter der Wattenmeerstation Sylt des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), Karsten Reise.
In knapp anderthalb Dutzend Beiträgen liefern WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen eine Vielzahl interessanter Erklärungsmuster unter anderem zur „Küstenmentalität“. Irritierender Begriff? Nein: Es ist eine von jenen Fragen, die viele Menschen sich noch nie gestellt haben und die für sie nur relevant werden, weil andere sie stellen und dazu Antworten anbieten. Was prägt den Küstenbewohner, was hat seinen Alltag und sein Denken entwickelt, was bestimmt seine Lebensweise, sein Verhältnis zu seiner Umwelt? Kulturgeschichtliches zur Küste – als attraktivem Lebensraum, als prosperierende Wirtschaftszone, als Risikoregion zwischen Sturmflut und Küstenschutz – trägt ebenso zu diesen Antworten bei wie etwa die Erörterung, ob das Meer eigentlich Feind oder Partner ist. Einige Thesen werden durchaus kontrovers diskutiert, andere ergänzen sich. Was unterscheidet dänische von deutschen oder niederländischen Gegebenheiten, wo liegen Gemeinsamkeiten?
Das alles mündet in die nächste elementare Fragestellung: Was verändert sich an den Küsten in welche Richtung? Was bestimmt heute die Grenzen zwischen Meer und Land, was künftig? Welchen natürlichen Schwankungen unterliegt der Meeresspiegel, welcher anthropogene Anteil verstärkt die Tendenz zu höheren Wasserständen? Und vor allem: Welche Konsequenzen können oder müssen daraus gezogen werden – im Küstenschutz, im Arbeits- und Lebensalltag, im politischen Miteinander?
Es ist, zusammengefasst, eine außergewöhnlich spannende Lektüre; nicht immer einfach im Stil, aber wer sich einlässt, wird gefesselt. Die Aufsätze lassen keinen Zweifel, dass sie die Auseinandersetzung noch am Anfang sehen. Insofern mag die Zukunft dazu beitragen, zwei Schwächen dieses Buches auszugleichen: Erstens fußt es – siehe oben – auf einer Debatte zwischen WissenschaftlerInnen und KüstenbewohnerInnen; Letztere kommen aber nicht zu Wort. Zweitens steht im Untertitel zwar „soziale Herausforderung“, tatsächlich aber fehlt eine fundierte ökonomische Analyse: Welche Interessen haben Küstenentwicklung beeinflusst oder bestimmt? Wer zog den Nutzen, wer musste zahlen? Und vor allem: Wer soll oder muss die Kosten tragen für notwendige Veränderungen? Küstenstrukturpolitik von unten – die fehlt noch in der Diskussion. (-bi-)