aus WATERKANT 3 / 95: Nachbetrachtung und Bilanz

In Heft 3 / 1995, Sei­te 9 ff. der (dama­li­gen) AKN-Zeitschrift WATERKANT erschien Ende Sep­tem­ber fol­gen­de Nach­be­trach­tung zur Kon­fe­renz „Nord­see ist mehr als Meer!“ von Joa­chim Dul­lin und Ute Meyer: 

Die Nord­see­kon­fe­renz der AKN „Nord­see ist mehr als Meer“ liegt inzwi­schen schon ein paar Mona­te zurück. Zeit genug, um aus der Fül­le der Dis­kus­si­ons­be­trä­ge die Kern­punk­te her­aus­zu­kris­tal­li­sie­ren. Ein ers­ter Stim­mungs­be­richt ist schon in der vori­gen Aus­ga­be der WATERKANT ver­öf­fent­licht wor­den. Eine genaue­re Betrach­tung wie die fol­gen­de muss natür­lich die Ergeb­nis­se der Arbeits­grup­pen mit ein­schlie­ßen (sie­he unten).

Raum für Lust, Besin­nung und Krea­ti­vi­tät war die Kon­fe­renz, die Ende Mai in Bre­men getagt hat. Vie­le sol­cher Frei­räu­me wur­den gefor­dert, damit unse­re Gesell­schaft in Bewe­gung kommt. – Es war kei­ne Nord­see­kon­fe­renz, die der Rei­he bestehen­der Schutz­kon­zep­te für die Nord­see noch eines drauf­setzt. Statt in der Kon­fe­renz alte Feind­bil­der zu pfle­gen oder neue zu suchen, wur­de das The­ma Nord­see­schutz aus einem grund­le­gen­de­ren Blick­win­kel betrachtet.

Statt um Sym­pto­me zu krei­sen, ging die Kon­fe­renz den eigent­li­chen Ursa­chen der Nordsee-Verschmutzung auf den Grund. The­ma­ti­siert wur­de die bei­na­he bana­le Erkennt­nis, dass letzt­end­lich die Lebens- und Kon­sum­ge­wohn­hei­ten unse­rer Über­fluss­ge­sell­schaft für das Ster­ben der Nord­see sowie für alle Krank­hei­ten der Umwelt ver­ant­wort­lich sind. Damit war sie kei­ne Kon­fe­renz für Exper­ten, son­dern ein Tref­fen für alle, eine Kon­fe­renz für eine betrof­fe­ne Gesell­schaft, die sowohl Opfer als auch Täter der Umwelt­zer­stö­rung ist.

Dreh- und Angel­punkt der Dis­kus­sio­nen war das The­ma Zeit. Es ist höchs­te Zeit, einen Wan­del her­vor­zu­ru­fen. Und es ist Zeit, wie­der in natür­li­chen Rhyth­men zu den­ken und zu leben.

Seriö­se Sze­na­ri­en sagen vor­aus, dass die glo­ba­le öko­lo­gi­sche „Trag­fä­hig­keit“ in spä­tes­tens 50 Jah­ren am Ende ist. Die wesent­li­chen Roh­stoff­re­ser­ven, die den heu­ti­gen mate­ri­el­len Wohl­stand der Indus­trie­ge­sell­schaf­ten begrün­den, wer­den dann erschöpft sein. Damit wer­den auch Arten­viel­falt, Wäl­der und sau­be­re Mee­re dem „Wachs­tum“ zum Opfer gefal­len, ver­braucht sein. In einem Lid­schlag der Erd­ge­schich­te hät­te die „moder­ne Leis­tungs­ge­sell­schaft“ tabu­la rasa gemacht mit dem, was die Evo­lu­ti­on in Mil­lio­nen von Jah­ren erzeugt hat. Unser Lebens­stil passt sich nicht in natür­li­che Zeit­rhyth­men ein.

Die vor­herr­schen­de gesell­schaft­li­che Maxi­me „schnel­ler, sat­ter, schi­cker“ hält jedoch unbe­irrt am Prin­zip des Wachs­tums fest, lebt aus der gren­zen­lo­sen Gier nach noch mehr Kon­sum­gü­tern, nach immer neue­ren kom­pli­zier­te­ren Struk­tu­ren und dem immer schnel­le­ren Umsatz von Stof­fen, Ent­wick­lun­gen und Tech­ni­ken. Ande­rer­seits füh­len sich immer mehr Men­schen belas­tet durch die Leis­tungs­an­for­de­run­gen die­ser Maxi­me, die Het­ze, den Stress und die Aggres­si­vi­tät die­ses Lebensprinzips.

Die Beschäf­ti­gung mit dem „Zeit­pro­blem“ ist jedoch weder eine Pri­vat­an­ge­le­gen­heit noch reicht die For­de­rung aus, die Poli­ti­ker mögen doch end­lich mit Geset­zen für Abhil­fe sor­gen. Die Teil­neh­me­rIn­nen der Kon­fe­renz for­mu­lier­ten viel­mehr ein sehr basis­de­mo­kra­ti­sches Ver­ständ­nis für die Ent­wick­lung von Lösungs­we­gen. „Frei­zei­ten für Frei­räu­me“ wur­den als neue Ele­men­te der Gesell­schaft gefordert.

Die­ser Ansatz folgt jedoch nicht dem vor­herr­schen­den Drang nach immer mehr Indi­vi­dua­li­tät und kür­ze­rer Arbeits­zeit. Er ent­spricht der Erkennt­nis, dass sich für die Ent­wick­lung von neu­en Lebens­we­gen Alli­an­zen bil­den müs­sen. Die Viel­zahl von bestehen­den Ideen und Gedan­ken kann erst in der Aus­ein­an­der­set­zung in der Grup­pe Form gewinnen.

Die­se Aus­ein­an­der­set­zung soll als eta­blier­tes Ele­ment inner­halb gesell­schaft­li­cher Struk­tu­ren wirk­sam wer­den kön­nen. Der ers­te Ansatz dazu ist, dass sich die jewei­li­gen Grup­pen mit ihrem eige­nen Umfeld beschäf­ti­gen müs­sen, die eige­ne Erfah­rung for­mu­lie­ren und die Ver­ant­wor­tung für die­sen Arbeits- oder Lebens­be­reich auch aktiv über­neh­men sollen.

Das bedeu­tet zum Bei­spiel, dass

  • Ler­nen­de in Bil­dungs­ein­rich­tun­gen Inhal­te, Kon­zep­te und For­men des Leh­rens und Ler­nens mit­ent­wi­ckeln müs­sen. Ler­nen muss dabei über Wis­sens­an­häu­fung hin­aus gehen. Der eigent­li­che Zweck von Ler­nen, Leh­ren und auch For­schen muss es sein, für die Gesell­schaft rele­van­te Zusam­men­hän­ge zu begrei­fen, zu denen sich der Ler­nen­de bzw. For­schen­de dann auch ver­hal­ten muss. Das heißt, Ler­nen und For­schen sind Pro­zes­se, die ein hohes Maß an Ver­ant­wor­tung nach sich zie­hen müssen.
  • Beschäf­tig­te in Betrie­ben die öko­lo­gi­schen, sozia­len und öko­no­mi­schen Fol­gen ihrer Arbeit the­ma­ti­sie­ren ler­nen und Per­spek­ti­ven für eine in die­ser Hin­sicht ver­träg­li­che­re Pro­duk­ti­on bzw. Arbeit ent­wi­ckeln sollen.
  • in Ver­wal­tun­gen die Eigen­ver­ant­wort­lich­keit und die Team­ar­beit gestärkt wer­den müs­sen. Der Sinn und die Legi­ti­mi­tät vie­ler Ver­wal­tungs­ein­rich­tun­gen muss dazu hin­ter­fragt wer­den. Ange­strebt wer­den sol­len auch Struk­tur­ver­ein­fa­chun­gen, der Abbau von Hier­ar­chien und die Stär­kung der Kontrollfunktionen.

Frei­raum“ ist dabei wirk­lich als räum­li­che Ein­rich­tung gedacht. „Frei­zeit“ bedeu­tet in die­sem Zusam­men­hang, die­sem Pro­zess Zeit zur Ver­fü­gung zu stel­len. Von der Arbeit­ge­ber­sei­te aus könn­te dies Frei­stel­lung von Arbeits­zeit hei­ßen. Man muss aber davon aus­ge­hen, dass sol­che basis­de­mo­kra­ti­schen Ansät­ze auch von der Basis auf­ge­baut und getra­gen wer­den müssen.

Das setzt zunächst erst ein­mal die (indi­vi­du­el­le) Bereit­schaft vor­aus, indi­vi­du­el­le Frei­zei­ten ein­schrän­ken zu kön­nen. Der in der Kon­fe­renz ver­tre­te­ne Anspruch nach Frei­räu­men besteht dar­auf, Umwelt­pro­ble­me (oder sozia­les Enga­ge­ment) nicht mehr an weni­ge enga­gier­te „Stell­ver­tre­ter“ zu dele­gie­ren. Gegen­stand und Ziel des Rin­gens um „Frei­zei­ten“ und „Frei­räu­me“ muss es glei­cher­ma­ßen sein, dass sich alle Gesell­schafts­mit­glie­der in ihrem Wir­kungs­kreis ver­ant­wort­lich fühlen.

Es stellt sich die Fra­ge, wie sol­che Struk­tu­ren in der Gesell­schaft errich­tet wer­den könn­ten. Die Idee lässt sich nicht mit dem Appell ver­wirk­li­chen, dass jeder ein­zel­ne doch end­lich Ein­sicht zei­gen und sei­nen Lebens­til und sei­ne Bedürf­nis­se über­den­ken möge.

Hier ist die Arbeit der Umwelt­be­we­gung neu gefor­dert. Sie muss den Anstoß geben, mehr als bis­her Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt für die Bil­dung sol­cher Bünd­nis­se sein. Dazu müs­sen die Umwelt­grup­pen Aus­strah­lung und Authen­ti­zi­tät zurück­ge­win­nen, sie müs­sen ler­nen, die Hoff­nung auf eine mög­li­che sozia­le, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Zukunft glaub­wür­dig ver­tre­ten zu können.

Noch viel­mehr ist dabei aber die Zusam­men­ar­beit der unter­schied­li­chen bereits zu die­sen The­men­be­rei­chen bestehen­den gesell­schaft­li­chen Grup­pie­run­gen gefragt. Die Aus­ein­an­der­set­zung unter­ein­an­der steht dabei ver­stärkt an, damit sich die rich­ti­gen Bünd­nis­part­ner fin­den und klei­ne Unter­schie­de in Auf­fas­sun­gen von gro­ßen Gemein­sam­kei­ten getrennt wer­den können.

Wel­che neu­en Ansprech­part­ne­rIn­nen bei der Umwelt­ar­beit gesucht wer­den müs­sen und wie die Umwelt­grup­pen in Zukunft ihre Arbeit wirk­sa­mer tun kön­nen, das ist die Fra­ge­stel­lung, mit der die AKN sich nach die­ser Kon­fe­renz befas­sen will.

(hier geht’s zu den Kurz­be­rich­ten über die sechs Arbeits­grup­pen!)