Die Büchsen der Pandora

Giftgasversenkung durch die Alliierten in der Lübecker Bucht

Von Stefan Nehring*

Es sind nur zwei kur­ze Sät­ze. Aber ihr Inhalt ist hoch­ex­plo­siv und stellt das bis­he­ri­ge Sicher­heits­kon­zept unse­rer Behör­den zum Umgang mit ver­senk­ter Muni­ti­on direkt vor unse­ren Strän­den erneut infra­ge: Kurz nach Kriegs­en­de notier­te die in Lübeck sta­tio­nier­te bri­ti­sche Spe­zi­al­ein­heit „21. Regio­nal Port Con­trol Team“ der Roy­al Engi­neers unter dem 29. Okto­ber 1945 in ihr Kriegs­ta­ge­buch: „Haupt­mann L. J. Hop­pe beglei­te­te an Bord des Schlep­pers ‚Tra­ve­mün­de‘ eine mit feind­li­cher che­mi­scher Kampf­stoff­mu­ni­ti­on bela­de­ne Klapp­schu­te zur Ver­sen­kungs­stel­le in der Lübe­cker Bucht. Der Ver­sen­kungs­ver­such mit der Klapp­schu­te wur­de erfolg­reich durch­ge­führt“ (1).

Bild 1: Zur „Ent­sor­gung“ in der Ost­see bestimm­te Gra­na­ten.
Quel­le: Archiv S. Nehring

Die­se kur­ze offi­zi­el­le Notiz lässt kei­ne Zwei­fel zu: Auch die bri­ti­sche Mili­tär­ad­mi­nis­tra­ti­on hat Gift­gas direkt vor unse­ren Strän­den ver­senkt. Damit ist ein wei­te­res Mal das jahr­zehn­te­lan­ge behörd­li­che Beteu­ern wider­legt, in deut­schen Gewäs­sern hät­te es nie Gift­gas­ver­sen­kun­gen gege­ben (2). Über­haupt scheint das The­ma Gift­gas bis heu­te in den Amts­stu­ben für kol­lek­ti­ves Unbe­ha­gen zu sor­gen. Denn wie lässt es sich sonst erklä­ren, dass die im Jahr 2008 gegrün­de­te Bund-Länder-Expertengruppe „Muni­ti­on im Meer“ auch nach zwölf Jah­ren inten­si­ver Recher­chen zum The­ma che­mi­sche Kampf­stof­fe in der deut­schen Nord- und Ost­see in ihren Berich­ten kei­ne ein­zi­ge unbe­kann­te Ver­sen­kungs­ak­ti­on auf­ge­deckt hat (3)?

Bis heu­te sind es pri­va­te Initia­ti­ven, die die Öffent­lich­keit zu die­sem The­ma mit immer neu­en Über­ra­schun­gen aus alten Akten trans­pa­rent und offen infor­mie­ren (Bild 1). So gesche­hen, als zum Bei­spiel WATERKANT erst­mals über die durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten kurz vor Kriegs­en­de durch­ge­führ­ten Gift­gas­ver­sen­kun­gen in der inne­ren Flens­bur­ger För­de detail­liert berich­te­te (4) oder als – im sel­ben Blatt – belegt wer­den konn­te, dass nie­der­säch­si­sche Behör­den 1949 zig­tau­sen­de Tabun-Granaten bei Hel­go­land ver­senkt hat­ten (5). Auch kann die behörd­li­che Exper­ten­grup­pe bis heu­te nicht die Fra­ge beant­wor­ten, ob die Zeu­gen­aus­sa­ge stimmt, dass im April und Mai 1945 in der Kie­ler Bucht – vor Laboe?, nur 1500 Meter vom Strand ent­fernt – im Wehr­machts­auf­trag eine grö­ße­re Anzahl Eisen­fla­schen mit dem hoch­ge­fähr­li­chen Senf­gas ver­senkt wor­den sei (5).

Lübe­cker Fall schon seit Febru­ar 2019 bekannt

Der ein­gangs zitier­te Fall zur Lübe­cker Bucht ist aber noch aus einem ganz ande­ren Grund von beson­de­rem Inter­es­se: Schon im Febru­ar 2019 wur­de der Akten­fund schleswig-holsteinischen Ver­tre­tern der Bund-Länder-Expertengruppe prä­sen­tiert: Auf der jähr­lich vom Bund Deut­scher Feu­er­wer­ker und Wehr­tech­ni­ker e. V. (BDFWT) ver­an­stal­te­ten „Fach­ta­gung Kampf­mit­tel­be­sei­ti­gung“ stell­te ein Mili­tär­ex­per­te in einem Vor­trag den Sach­ver­halt dar, der kur­ze Zeit spä­ter auch via Inter­net ver­öf­fent­licht wur­de (6). Die Quel­len­an­ga­be ermög­licht es zudem jedem Inter­es­sier­ten, pro­blem­los eine Kopie der Ori­gi­nal­ak­te im bri­ti­schen Natio­nal­ar­chiv für rela­tiv gerin­ge Kos­ten online zu bestel­len und inner­halb von weni­gen Tagen via Down­load zur eige­nen Prü­fung und Ana­ly­se zu bekommen.

Info-Kasten:
Chemische Kampfstoffe
und ihre Wirkungen

Che­mi­sche Kampf­stof­fe sind vor allem mili­tä­risch genutz­te che­mi­sche Ver­bin­dun­gen, die die phy­sio­lo­gi­schen Funk­tio­nen des mensch­li­chen Orga­nis­mus der­ma­ßen stö­ren, dass die Kampf­fä­hig­keit von Men­schen beein­träch­tigt oder sogar der Tod her­bei­ge­führt wird. Es sind gas­för­mi­ge, flüs­si­ge oder fes­te Stof­fe, die in Bom­ben und Gra­na­ten oder durch Abbla­sen oder Ver­sprü­hen mit Gas­fla­schen oder Kanis­tern gegen Men­schen ein­ge­setzt wer­den können.
Die wäh­rend es Zwei­ten Welt­krie­ges pro­du­zier­ten che­mi­schen Kampf­stof­fe las­sen sich fol­gen­den Wirk­stoff­grup­pen zuordnen:

1. Ner­ven­kampf­stof­fe

Wich­ti­ge Ver­tre­ter: Tabun, Sarin, Soman
Haupt­sym­pto­me: Krämp­fe sowie Läh­mung des Atem­zen­trums (Atem­still­stand).

2. Haut­kampf­stof­fe

Wich­ti­ge Ver­tre­ter: Lost (Senf­gas), Lewisit
Haupt­sym­pto­me: Haut­rö­tun­gen, Bla­sen­bil­dung, nekro­ti­sche Gewe­be­zer­stö­run­gen mit außer­or­dent­lich schlech­ter Hei­lungs­ten­denz, Schä­di­gung von Orga­nen (Augen, Leber, Nie­re, Milz, Hirn, Magen-Darm-Trakt, Herz, Lun­ge) mit ggfs. töd­li­chen Aus­gang, stark kanzerogen.

3. Lun­gen­kampf­stof­fe

Wich­ti­ge Ver­tre­ter: Phos­gen, Diphosgen
Haupt­sym­ptom: toxi­sches Lungenödem.

4. Nasen- und Rachenreizstoffe

Wich­ti­ge Ver­tre­ter: Adam­sit, Clark I, Clark II
Haupt­sym­pto­me: Husten- und Nies­reiz, ver­stärk­te Sekre­ti­on der Nasen­schleim­haut und Spei­chel­drü­sen, Atem­not, Kopf­schmerz und Schmer­zen im Brust­bein­be­reich. In hohen Kon­zen­tra­tio­nen ist Aus­bil­dung eines toxi­schen Lun­gen­ödems möglich.

5. Augen­reiz­stof­fe

Wich­ti­ger Ver­tre­ter: Chloracetophenon
Haupt­sym­pto­me: Bren­nen und Ste­chen der Augen, Trä­nen­fluß, Fremd­kör­per­ge­fühl, Lid­schluß, zeit­wei­li­ge Blind­heit und Bin­de­haut­ent­zün­dun­gen. In hohen Kon­zen­tra­tio­nen sind blei­ben­de Augen­schä­den und Aus­bil­dung eines toxi­schen Lun­gen­ödems möglich.

Daher ver­wun­dert es umso mehr, dass die­se ers­te beleg­te Ver­sen­kung von che­mi­scher Kampf­stoff­mu­ni­ti­on in der Lübe­cker Bucht offen­sicht­lich behörd­li­cher­seits bis heu­te kei­ne beson­de­re Beach­tung erfährt. Im Febru­ar die­ses Jah­res hat­ten zwar in Lübeck eine inter­ne „Muni­ti­ons­be­ra­tung“ des städ­ti­schen Aus­schus­ses für Umwelt, Sicher­heit und Ord­nung sowie eine öffent­li­che Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tung der SPD-Landtagsfraktion zum Muni­ti­ons­pro­blem statt­ge­fun­den. Laut einem Pres­se­be­richt wur­de dabei aber jeweils nur die seit lan­gem bekann­te Belas­tung der Lübe­cker Bucht mit kon­ven­tio­nel­ler Muni­ti­on the­ma­ti­siert (7).

Immer­hin gab es dort aller­dings einen nur für Insi­der ver­ständ­li­chen, ver­steck­ten Hin­weis auf das bestehen­de Gift­gas­pro­blem: Ein schleswig-holsteinischer Ver­tre­ter der Exper­ten­grup­pe soll laut Teil­neh­mern geunkt haben, die vie­len vor Neu­stadt ver­senk­ten Muni­ti­ons­kis­ten „kön­nen sich zu sehr unheil­vol­len ‚Büch­sen der Pan­do­ra‘ ent­wi­ckeln, wenn sich dar­in statt der ‚Ori­gi­nal­fül­lung‘ mit kon­ven­tio­nel­ler Muni­ti­on auch sol­che mit che­mi­schen Kampf­stof­fen […] befin­den“ (8). Das soll­te offen­sicht­lich beru­hi­gen, ver­kennt aber die Tat­sa­chen und ist ein gra­vie­ren­des Ver­säum­nis, denn che­mi­sche Kampf­stof­fe im fla­chen Was­ser direkt vor unse­ren Strän­den beinhal­ten eine aku­te Gefah­ren­la­ge, die auf bei­den Fach­sit­zun­gen hät­te ver­tieft dis­ku­tiert wer­den müssen.

Noch im Novem­ber 2019 hat­te Schleswig-Holsteins Umwelt­mi­nis­ter Jan Phil­ipp Albrecht (Grü­ne) zur Muni­ti­ons­pro­ble­ma­tik in Nord- und Ost­see mah­nend fest­stellt: „Der Staat hat das Pro­blem 50 Jah­re negiert“ (9). Trans­pa­renz und akti­ves Han­deln sind also gefor­dert und poli­tisch gewollt. Jetzt gilt es, staat­li­cher­seits ab sofort ver­ant­wor­tungs­voll, ziel­ge­rich­tet und ange­mes­sen zu han­deln und dabei die Öffent­lich­keit pro­ak­tiv früh­zei­tig zu infor­mie­ren. Bis dahin ist es aber noch ein lan­ger Weg. Schon im Fall Hel­go­land wur­de trotz ein­deu­ti­ger Akten­la­ge lan­ge Zeit die Gift­gas­ver­sen­kung durch nie­der­säch­si­sche Behör­den­ver­tre­ter öffent­lich als „zwei­fel­haft“ abge­tan (10). Und nach­dem WATERKANT die Akten zitiert hat­te und die­se end­lich behörd­li­cher­seits als Fak­tum akzep­tiert wor­den waren, dau­er­te es mehr als ein Jahr, bis zumin­dest auf den See­kar­ten das Gebiet mit dem Gefah­ren­hin­weis „Gas­mu­ni­ti­on“ bezeich­net wur­de (11). Eine Aus­wei­sung als Sperr­ge­biet geschwei­ge denn eine Ber­gung der Tabun-Granaten wur­den aber bis heu­te nicht realisiert.

Das Kon­zept der Alliierten

Der aktu­el­le Fall lüf­tet noch wei­te­re Geheim­nis­se über das Muni­ti­ons­pro­blem ent­lang der schleswig-holsteinischen „Rivie­ra“. Unmit­tel­bar nach Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges stan­den die Sie­ger­mäch­te vor der Her­aus­for­de­rung, das deut­sche Kriegs­po­ten­zi­al schnellst­mög­lich zu ver­nich­ten. Groß war die Angst vor der Exis­tenz eines schlag­kräf­ti­gen Partisanen-Apparates aus natio­nal­so­zia­lis­ti­schen „Wer­wöl­fen“. So muss­ten prak­ti­ka­ble, rasche Lösun­gen für die enor­men Beu­te­ar­se­na­le an Muni­ti­on gefun­den wer­den. Das Ver­sen­ken im Meer galt dabei als die effi­zi­en­tes­te und unge­fähr­lichs­te Metho­de. Rund zwei Mil­lio­nen Ton­nen deut­sche Muni­ti­on wur­den per Bahn oder Bin­nen­schiff an die Küs­te trans­por­tiert und auf See­schif­fe umge­la­den. Ver­sen­kungs­stel­len wur­den durch die Alli­ier­ten fest­ge­legt und auf den See­kar­ten eingezeichnet.

Bild 2: Klapp­schu­te wird für Ein­satz kla­riert.
Quel­le: BAW, IZW-Medienarchiv

Kon­ven­tio­nel­le Muni­ti­on wur­de dabei oft­mals schon auf der Fahrt direkt nach Ver­las­sen des Hafens ein­fach über Bord gege­ben oder mit Hil­fe von Klapp­schu­ten ent­sorgt (Bild 2), indem an den meist strand­na­hen Ver­sen­kungs­stel­len die Böden der Schu­te nach unten abge­klappt wur­den, wobei die Muni­ti­on her­aus­rutsch­te und punk­tu­ell als gro­ßer Hau­fen auf den Mee­res­bo­den fiel. Für die 300.000 Ton­nen deut­scher Gift­gas­mu­ni­ti­on sah das Kon­zept der West­al­li­ier­ten vor, es jeweils mit­samt Schiff fern­ab der Küs­ten in grö­ße­ren Was­ser­tie­fen zu ver­sen­ken. Dafür wur­den suk­zes­si­ve Dut­zen­de deut­sche Han­dels­schif­fe benö­tigt. Den Ree­de­rei­en war es dabei zumin­dest gestat­tet, Ein­rich­tun­gen und Aus­rüs­tungs­ge­gen­stän­de vor­ab von Bord zu neh­men. Brauch­ba­rer Schiffs­raum war in jenen Zei­ten aber knapp, und jeder zusätz­li­che Ver­lust volks­wirt­schaft­lich inak­zep­ta­bel. So ver­wun­dert es auch nicht, dass bri­ti­sche Dienst­stel­len auf der Suche nach geeig­ne­te­ren Alter­na­ti­ven für die Ver­sen­kung von Gift­gas waren.

Gift­gas­mu­ni­ti­on in der Lübe­cker Bucht

Lübeck war damals einer der größ­ten Ver­la­de­hä­fen für zu ver­sen­ken­de Muni­ti­on. Ende 1945 wur­den im Stadt­teil Schlut­up mehr­mals pro Woche durch die bri­ti­sche Mili­tär­ad­mi­nis­tra­ti­on Klapp­schu­ten und Dampf­bag­ger vor allem mit hoch­bri­san­ter kon­ven­tio­nel­ler Muni­ti­on be- und an der damals ein­zi­gen in der Lübe­cker Bucht aus­ge­wie­se­nen Ver­sen­kungs­stel­le vor Haff­krug ent­la­den (Bild 3). Gleich­zei­tig wur­den tau­sen­de Ton­nen Gift­gas­mu­ni­ti­on auf Frach­tern ver­staut, die im Ska­ger­rak ver­senkt wer­den soll­ten. Es han­del­te sich damals um die gan­ze Band­brei­te an che­mi­schen Kampf­stof­fen und Muni­ti­ons­ty­pen. Ein­zig Spit­zen­kampf­stof­fe wie vor allem Ner­ven­ga­se (Sarin, Soman, Tabun) wur­den größ­ten­teils zu For­schungs­zwe­cken in die Hei­mat­län­der der Alli­ier­ten verbracht.

Es kann unter­stellt wer­den, da genaue­re Anga­ben im vor­lie­gen­den Kriegs­ta­ge­buch feh­len, dass bei der Pilot­ver­sen­kung vor Haff­krug eine dem Ver­such ange­mes­se­ne Aus­wahl und Men­ge an Gift­gas­mu­ni­ti­on ein­ge­setzt wur­de. So wur­den wahr­schein­lich vor allem mit Senf­gas – der von den Nazis mit Abstand am häu­figs­ten pro­du­zier­te Kampf­stoff – sowie mit Phos­gen und arsen­hal­ti­gen Kampf­stof­fen gefüll­te Bom­ben, Gra­na­ten, Minen und Kanis­ter ver­senkt, deren Gesamt­ge­wicht bei beacht­li­chen 100 Ton­nen gele­gen habe dürf­te. So hoch war zumin­dest zu dama­li­ger Zeit in Lübeck die durch­schnitt­li­che Bela­dung der Klapp­schu­ten mit kon­ven­tio­nel­ler Munition.

Bild 3: Muni­ti­ons­ver­seuch­te Gebie­te (Ver­sen­kungs­stel­len und Trans­port­rou­ten) in der Lübe­cker Bucht.
Die Kar­te der Bund-Länder-Expertengruppe (B) ist unter Berück­sich­ti­gung alter bri­ti­scher Akten
und See­kar­ten (A) deut­lich zu erwei­tern.
Quel­len: Archiv S. Neh­ring und Bericht der Bund-Länder-Expertengruppe aus 2011 (sie­he Anm. 3).

Nach Erkennt­nis­sen der Bund-Länder-Expertengruppe sol­len Ver­sen­kungs­fahr­ten von Lübeck aus in die Lübe­cker Bucht aus­schließ­lich zum Ver­sen­kungs­ge­biet vor Pelz­erha­ken geführt haben (3). Das ist anhand der aktu­el­len Akten­fun­de zu revi­die­ren. Die Ver­sen­kungs­stel­le vor Haff­krug ist nicht nur von Neu­stadt aus bedient wor­den, son­dern wur­de spe­zi­ell auch für die Lübe­cker Ver­sen­kung von Gift­gas und hoch­bri­san­ter Muni­ti­on genutzt (Bild 3). Da auf die­sem Trans­port­weg in gewis­sen Umfang eben­falls ein „en-route dum­ping“ zu ver­mu­ten ist, ist das muni­ti­ons­be­las­te­te Gebiet in der Lübe­cker Bucht deut­lich grö­ßer und strand­nä­her als behörd­li­cher­seits bis­lang angenommen.

Akti­ves Han­deln drin­gend erforderlich

Im Gegen­satz zum Ver­sen­kungs­ge­biet Pelz­erha­ken, wo – nicht direkt strand­nah, bei Was­ser­tie­fen von mehr als 20 Metern – ein Groß­teil der ver­senk­ten Muni­ti­on in den Nach­kriegs­jahr­zehn­ten meter­hoch mit Hoch­ofen­schla­cke über­deckt wur­de, ver­langt die aku­te Gefah­ren­la­ge vor Haff­krug schnel­les Han­deln der Behör­den. Die Muni­ti­on liegt dort viel­fach frei auf dem san­di­gen Mee­res­bo­den bei einer Was­ser­tie­fe von nur 10-15 Metern. Die Strän­de sind teil­wei­se nur 1,5 Kilo­me­ter ent­fernt, so dass durch Stark­wind­la­gen immer wie­der Muni­ti­ons­kör­per in Bewe­gung kom­men und ein­fach ange­spült wer­den können.

Beson­ders per­fi­de ist dabei ein Phä­no­men, vor dem schon 1971 in einem Gut­ach­ten zur Gift­gas­pro­ble­ma­tik in der Ost­see ein­dring­lich gewarnt wur­de (12). Ein Kampf­stoff­ex­per­te gab zu Pro­to­koll, dass Senf­gas sich im Was­ser lang­sam unter Abspal­tung von Salz­säu­re zer­set­ze. Sei­ner Ansicht nach könn­ten somit nicht ganz dich­te dünn­wan­di­ge Muni­ti­ons­kör­per, wie die mit Senf­gas gefüll­ten Minen (so genann­te Sprüh­büch­sen) und Bom­ben, bei län­ge­rer Lage­rung in tie­fen Gewäs­sern all­mäh­lich Auf­trieb bekom­men, da Salz­säu­re mit dem Eisen Was­ser­stoff ent­wi­cke­le, der dabei die Fül­lung ver­drän­ge. Sol­che auf­ge­schwemm­te Gift­gas­mu­ni­ti­on kön­ne dann pro­blem­los an Strän­de ver­trie­ben wer­den und beim Anlan­den wei­ter­hin Senf­gas aus­tre­ten las­sen, was Unfäl­le zur Fol­ge habe. So gesche­hen laut Gut­ach­ten an der ita­lie­ni­schen Rivie­ra, als ver­senk­te fran­zö­si­sche Kampf­stoff­mu­ni­ti­on durch Gas­bil­dung in den Behäl­tern in Fol­ge von Innen­kor­ro­si­on auf­trieb. Auch an pol­ni­schen und schwe­di­schen Ost­see­strän­den kam es schon zu uner­war­te­ten Senf­gas­un­fäl­len mit mehr als 100 Verletzten.

Gern beru­hi­gen die Behör­den die Öffent­lich­keit mit dem Hin­weis, dass vie­le ver­senk­te che­mi­sche Kampf­stof­fe bei Frei­set­zung unter Was­ser inner­halb kur­zer Zeit­räu­me zu weni­ger gif­ti­gen, gut was­ser­lös­li­chen Stof­fen abge­baut wer­den (3). Für ange­spül­te Muni­ti­ons­kör­per mit ihrem töd­li­chen Inhalt und ins­be­son­de­re für offen lie­gen­de Senf­gas­klum­pen gilt das aber nicht. Senf­gas ist sehr sta­bil und behält sei­ne Gefähr­lich­keit auch bei wech­seln­den phy­si­ka­li­schen Eigen­schaf­ten über vie­le Jahr­zehn­te. Und genau dann, wenn sich die meis­ten Urlau­ber an den Strän­den son­nen, in der war­men Jah­res­zeit, besitzt Senf­gas sei­ne größ­te Wirk­sam­keit. Des­halb for­der­te der Gut­ach­ter schon 1971 zur Ver­hin­de­rung von Unfäl­len, dass „schnel­le, umfas­sen­de, wirk­sa­me und koor­di­nier­te Maß­nah­men not­wen­di­ger denn je sind“ (12).

Bild 4: Deut­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne muss­ten die Gift­gas­mu­ni­ti­on ver­la­den.
Quel­le: Archiv S. Nehring

Apro­pos Gift­gas­ver­sen­kung – unge­klärt bis heu­te ist der Ver­bleib der 1961 durch die Han­se­stadt Lübeck vor der eige­nen Haus­tür ver­senk­ten che­mi­schen Kampf­stof­fe (5). Und neue Augen­zeu­gen­be­rich­te las­sen ver­mu­ten, dass noch lan­ge nicht alle Akti­vi­tä­ten zur Gift­gas­ent­sor­gung vor unse­ren Strän­den bekannt sind. So sol­len deut­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne Anfang 1947 in Schlut­up meh­re­re Tage lang fran­zö­si­sche grü­ne Kampf­stoff­gra­na­ten auf selbst­fah­ren­de Klapp­schu­ten ver­la­den haben (Bild 4), die anschlie­ßend ihre Fracht in der Lübe­cker Bucht ver­klappt hätten. 

Jetzt umset­zen: Mehr­stu­fi­ges Sicherungs- und Sanierungskonzept

Pres­se­mel­dun­gen ver­hei­ßen jedoch nichts Gutes, wenn Ent­schei­dungs­trä­ger beim The­ma ver­senk­te Muni­ti­on wei­ter­hin dar­auf behar­ren: „Wir haben bestimmt noch 30 Jah­re, in denen wir in Ruhe mit die­ser Belas­tung umge­hen kön­nen“ (13). Für die Lübe­cker Bucht gilt das nicht. Die Gefah­ren durch Senf­gas und Co. las­sen kein Zögern mehr zu. Ein mehr­stu­fi­ges Sicherungs- und Sanie­rungs­kon­zept ist für die Lübe­cker Bucht jetzt in Anwen­dung zu bringen:

1. Umge­hend sind alle bekann­ten Ver­sen­kungs­stel­len zu Sperr­ge­bie­ten zu erklä­ren, um jeg­li­chen Zugriff Drit­ter auf che­mi­sche Kampf­stof­fe und ande­re gefähr­li­che Muni­ti­on zu unter­bin­den. Strand­be­su­cher, Was­ser­sport­ler, Schiff­fahrt und Fische­rei sind beson­ders zu war­nen. Auf See­kar­ten ist die Ver­sen­kungs­stel­le vor Haff­krug mit dem Gefah­ren­hin­weis „Gas­mu­ni­ti­on“ zu ver­se­hen und das HELCOM-Sekretariat ist dar­um zu bit­ten, die Ver­sen­kungs­stel­le offi­zi­ell als HELCOM-Giftgasgebiet auszuweisen.

2. Soweit noch nicht erfolgt, ist in den nächs­ten Mona­ten eine flä­chen­de­cken­de Muni­ti­ons­su­che inner- und außer­halb der Ver­sen­kungs­stel­len mit Ber­gung und nach­fol­gen­der muni­ti­ons­tech­ni­scher Begut­ach­tung von Pro­jek­ti­len durch­zu­füh­ren. Zeit­gleich ist eine ver­tie­fen­de his­to­ri­sche Erkun­dung zum zeit­li­chen Ablauf und zu den Ört­lich­kei­ten der Ver­sen­kun­gen von Gift­gas und kon­ven­tio­nel­ler Muni­ti­on zu rea­li­sie­ren, indem ins­be­son­de­re Doku­men­te der ver­schie­de­nen Dienst­stel­len der bri­ti­schen Mili­tär­ad­mi­nis­tra­ti­on gesucht und aus­ge­wer­tet werden.

3. Anschlie­ßend sind unter Ein­bin­dung unab­hän­gi­ger Exper­ten auf Grund­la­ge aller Erkennt­nis­se die prio­ri­tä­ren muni­ti­ons­be­las­te­ten Gebie­te zu iden­ti­fi­zie­ren, die zur Gefah­ren­ab­wehr für Mensch und Umwelt saniert wer­den müs­sen. Für alle nicht prio­ri­tä­ren Gebie­te ist zumin­dest der zukünf­ti­ge Hand­lungs­be­darf festzulegen.

4. Die Sanie­rung der prio­ri­tä­ren Muni­ti­ons­ge­bie­te ist schnellst­mög­lich zu erfül­len. Wei­te­rer Hand­lungs­be­darf ist adäquat umzusetzen.

Lübe­cker Bucht: Nur die Spit­ze des Eisbergs

Mit die­sem Auf­ga­ben­ka­ta­log ist das The­ma „Gift­gas vor den deut­schen Strän­den“ jedoch lan­ge noch nicht abge­schlos­sen. In vie­len deut­schen Häfen wur­den che­mi­sche Kampf­stof­fe zur Ver­sen­kung auf Schif­fe ver­la­den – und bis heu­te ist deren Ver­bleib oft unge­klärt. Der aktu­el­le Fall „Lübe­cker Bucht“ ist, wie WATERKANT bereits mehr­fach nach­wei­sen konn­te, nur die „Spit­ze des Eisbergs“.

Update 1 (Stand 7. Juli 2020)

Direkt nach Ver­öf­fent­li­chung des vor­ste­hen­den Arti­kels berich­te­ten vie­le nord­deut­sche Tages­zei­tun­gen über die strand­na­he Gift­gas­ver­sen­kung in der Lübe­cker Bucht. Hier­zu erklär­te Peter Stein, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Ros­tock und Bericht­erstat­ter für Muni­ti­ons­alt­las­ten bei der Ostseeparlamentarier-Konferenz u.a. in der Ostsee-Zeitung vom 24. Juni 2020: „Die­se Erkennt­nis­se von Dr. Neh­ring sind mir in die­ser Klar­heit neu. Dass es in deut­schen Gewäs­sern nie­mals Gift­gas­ver­sen­kun­gen gege­ben habe, die­se Aus­sa­ge habe ich nie für abschlie­ßend belast­bar gehalten.“
Vier Tage spä­ter berich­te­ten die Lübe­cker Nach­rich­ten, dass das Kie­ler Umwelt­mi­nis­te­ri­um indes kei­nen Anlass sehe ein­zu­schrei­ten. So stell­te des­sen Spre­cher Josch­ka Tou­ré klar: „Unter­la­gen aus bri­ti­schen Archi­ven, die so einen Vor­gang nahe­le­gen, lie­gen dem Land seit 2012 vor.“ Nach­prü­fun­gen his­to­ri­scher Unter­la­gen hät­ten den Ver­dacht jedoch nicht erhär­ten kön­nen. Die ein­deu­ti­ge Aus­sa­ge im Kriegs­ta­ge­buch zur erfolg­ten Gift­gas­ver­sen­kung wird also amt­li­cher­seits ein­fach als „Ver­dacht“ bewer­tet. Und schon gilt das Pro­blem für die Behör­den als gelöst. Kuri­os ist, dass ande­re ori­gi­nä­re, aber unpro­ble­ma­ti­sche Aus­sa­gen zu Muni­ti­on im glei­chen Kriegs­ta­ge­buch als unein­ge­schränkt wahr ver­brei­tet werden.
Die­se Ent­schei­dungs­fin­dun­gen erin­nern sehr stark an frü­he­re Zei­ten, als unan­ge­neh­me Erkennt­nis­se über Muni­ti­on in Nord- und Ost­see behörd­li­cher­seits gern ver­schwie­gen oder als unglaub­wür­dig abge­tan wur­den, zum töd­li­chen Nach­teil von Mensch und Umwelt. Das galt eigent­lich als über­wun­den (Sueddeutsche.de vom 18. April 2020): „50 Jah­re lang hat der Staat das Pro­blem der Muni­ti­on in Nord- und Ost­see ver­neint, auf unse­re Bemü­hun­gen aus Schleswig-Holstein hin kommt man jetzt end­lich ins Han­deln“, sag­te der schleswig-holsteinische Umwelt­mi­nis­ter Jan Phil­ipp Albrecht der dpa. „Das ist wich­tig, denn ange­sichts der Zer­falls­pro­zes­se unter Was­ser arbei­tet die Zeit gegen uns.“
Das Kapi­tel Gift­gas in deut­schen Gewäs­sern ist damit nicht abgeschlossen.


Update 2 (Stand 12. Januar 2021)
Kleine Anfrage im Bundestag vom 17. Juli 2020

Weni­ge Wochen nach Ver­öf­fent­li­chung des Arti­kels bei WATERKANT hat die Frak­ti­on der FDP im Deut­schen Bun­des­tag im Rah­men einer Klei­nen Anfra­ge „Deutsch­lands Bei­trag zur Ret­tung der Welt­mee­re“ (Druck­sa­che 19/21121, vom 17.07.2020) der Bun­des­re­gie­rung ins­be­son­de­re zur Gift­gas­ver­sen­kung in der Lübe­cker Bucht fol­gen­de Fra­gen gestellt:
„17. Wel­che kon­kre­ten Kennt­nis­se hat die Bun­des­re­gie­rung von dem Vor­kom­men che­mi­scher Kampf­stof­fe in der Lübe­cker Bucht in unmit­tel­ba­rer Nähe der Strän­de, auf die kürz­lich der Mee­res­bio­lo­ge Dr. Ste­fan Neh­ring hin­wies, nach­dem er zuvor im Rah­men sei­ner For­schungs­ar­bei­ten auf einen Ein­trag über die Ver­la­dung che­mi­scher Kampf­stoff­mu­ni­ti­on im Kriegs­ta­ge­buch der damals in Lübeck sta­tio­nier­ten bri­ti­schen „21. Regio­nal Port Con­trol Teams“ im bri­ti­schen Natio­nal­ar­chiv gesto­ßen ist (https://www.shz.de/lokales/ostholsteiner-anzeiger/meeresbiologe-dr-stefan-nehring-warnt-giftgas-in-der-luebecker-bucht-id28719677.html)?
a) Lie­gen der Bun­des­re­gie­rung bzw. der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Nord- und Ost­see (BLANO) schon seit Febru­ar 2019 aus der jähr­lich ver­an­stal­te­ten „Fach­ta­gung Kampf­mit­tel­be­sei­ti­gung“ des Bun­des Deut­scher Feu­er­wer­ker und Wehr­tech­ni­ker ent­spre­chen­de Kennt­nis­se vor, wie dem Arti­kel der „SHZ“ zu ver­neh­men ist (https://www.shz.de/lokales/ostholsteiner-anzeiger/meeresbiologe-dr-stefan-nehring-warnt-giftgas-in-der-luebecker-bucht-id28719677.html)?
b) Wel­che kon­kre­ten Maß­nah­men wur­den dar­auf­hin in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BLANO) eingeleitet?
18. Falls der Bun­des­re­gie­rung kei­ne Kennt­nis­se bezüg­lich Fra­ge 16 vor­lie­gen, wel­che kon­kre­ten Maß­nah­men plant die Bun­des­re­gie­rung, auf­grund der neu­en Gefähr­dungs­la­ge im Rah­men der Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BLANO) einzuleiten?
19. Wie bewer­tet die Bun­des­re­gie­rung die Gefähr­dungs­la­ge des Vor­kom­mens che­mi­scher Kampf­stof­fe in der Lübe­cker Bucht ange­sichts des­sen, dass nach Annah­me des Mee­res­bio­lo­gen Dr. Ste­fan Neh­ring vor allem Senf­gas, mit Phos­gen und arsen­hal­ti­gen Kampf­stof­fen gefüll­te Bom­ben, Gra­na­ten, Minen und Kanis­ter ver­senkt wur­den und nach sei­ner Aus­sa­ge durch den Akten­fund ein wei­te­res Mal das jahr­zehn­te­lan­ge behörd­li­che Beteu­ern wider­legt sei, dass es in deut­schen Gewäs­sern nie Gift­gas­ver­sen­kun­gen gege­ben hät­te und zudem gemäß sei­ner Annah­me das Muni­ti­ons­ver­sen­kungs­ge­biet in der Kie­ler Bucht deut­lich grö­ßer und strand­nä­her als von den Behör­den ange­nom­men sein könn­te (https://www.shz.de/lokales/ostholsteiner-anzeiger/meeresbiologe-dr-stefan-nehring-warnt-giftgas-in-der-luebecker-bucht-id28719677.html)?“

Ant­wort der Bun­des­re­gie­rung vom 12. Janu­ar 2021 auf die Klei­ne Anfrage:
„Mit der Druck­sa­che 19/25775 vom 12.01.2021 hat die Bun­des­re­gie­rung die Klei­ne Anfra­ge beant­wor­tet und stellt zu den Fra­gen 17 bis 19 zur Gift­gas­ver­sen­kung in der Lübe­cker Bucht fest:
Die Fra­gen 17 bis 19 wer­den wegen ihres engen fach­li­chen Zusam­men­han­ges gemein­sam beantwortet.
Dies­be­züg­li­che Infor­ma­tio­nen lie­gen bereits seit dem Jahr 2012 vor. Der Anfangs­ver­dacht konn­te zer­streut wer­den. Die dies­be­züg­li­che his­to­ri­sche Rekon­struk­ti­on der dar­ge­stell­ten Ereig­nis­se hat erge­ben, dass die Ver­la­dung von Kampf­stoff­mu­ni­ti­on in Lübeck zu die­sem Zeit­punkt bereits voll­stän­dig abge­schlos­sen war. Ergän­zend wird auf die Berich­te https://www.schleswig-holstein.de/DE/UXO/Berichte/PDF/Berichte/anhang_10414.html und https://helcom.fi/media/publications/BSEP142.pdf verwiesen.“

Fach­li­che Anmer­kun­gen zur Antwort:
Die vor­lie­gen­de Ant­wort igno­riert wesent­li­che Erkennt­nis­se, die ins­be­son­de­re auch in den zitier­ten Berich­ten nach­zu­le­sen sind. So wur­de erst im Novem­ber 1947 die Ver­la­dung von Kampf­stoff­mu­ni­ti­on in Lübeck end­gül­tig abge­schlos­sen, als dort für die letz­te Ver­sen­kungs­fahrt Rich­tung Ska­ger­rak der deut­sche Damp­fer Wer­ner II mit 1.332 Ton­nen Kampf­stoff­gra­na­ten bela­den wur­de. Laut Kriegs­ta­ge­buch der damals in Lübeck sta­tio­nier­ten bri­ti­schen Spe­zi­al­ein­heit „21. Regio­nal Port Con­trol Teams“ wur­den im direk­ten zeit­li­chen Umfeld der benann­ten Ver­suchs­ver­sen­kung in der Lübe­cker Bucht (29. Okto­ber 1945) im Lübe­cker Hafen zwi­schen 1. und 25. Okto­ber ins­ge­samt über 10.000 Ton­nen Kampf­stoff­mu­ni­ti­on zur Ver­sen­kung im Ska­ger­rak suk­zes­si­ve auf vier deut­sche Damp­fer ver­la­den. Die­sen Anga­ben zur Ver­la­dung wird laut zitier­ten Berich­ten behörd­li­cher­seits unein­ge­schänkt geglaubt, die von der sel­ben bri­ti­schen Ein­heit doku­men­tier­te Ver­suchs­ver­sen­kung jedoch nicht. Eine hin­rei­chen­de Begrün­dung für die­se Ent­schei­dung fehlt.
Lübeck war einer der Haupt­ver­la­de­hä­fen für che­mi­sche Kampf­stoff­mu­ni­ti­on direkt nach Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges. Die alli­ier­te Mili­tär­ad­min­stra­ti­on setz­te alles dar­an, so schnell wie mög­lich ins­be­son­de­re che­mi­sche Kampf­stof­fe dem Zugriff der deut­schen Bevöl­ke­rung zu ent­zie­hen. Da Ende Okto­ber 1945 kein wei­te­rer Damp­fer für eine Ver­sen­kungs­fahrt Rich­tung Ska­ger­rak in Lübeck direkt zur Ver­fü­gung stand, wur­den bei der Ver­suchs­ver­sen­kung sehr wahr­schein­lich noch vor­han­de­ne Kampf­stoff­be­stän­de, die am 25. Okto­ber 1945 nicht mehr auf den „letz­ten“ der vier Damp­fer – The­da Frit­zen – ver­la­den wer­den konn­ten, schnell und unkom­pli­ziert direkt vor den Strän­den ent­sorgt. Zudem ermög­lich­te die durch die Spe­zi­al­ein­heit als erfolg­reich beur­teil­te Ver­suchs­ver­sen­kung es
der Mili­tär­ad­min­stra­ti­on, zukünf­tig bei Bedarf kurz­fris­tig und kos­ten­güns­tig auf eine bewähr­te Ent­sor­gungs­tech­nik für beson­de­re gefähr­li­che Kampf­mit­tel zurück­zu­grei­fen. Die­ses wur­de in den nach­fol­gen­den Mona­ten für die Ver­sen­kung hoch bri­san­ter Muni­ti­on in der Lübe­cker Bucht auch aus­gie­big genutzt.
Es ist unver­ständ­lich, wie­so bei die­ser Fak­ten­la­ge „der Anfangs­ver­dacht“ einer doku­men­tier­ten Ver­sen­kung che­mi­scher Kampf­stof­fe in der Lübe­cker Bucht als „zer­streut“ gel­ten soll. Oder kann nicht sein, was nicht sein darf? Denn che­mi­sche Kampf­stof­fe direkt vor den Strän­den und nur in rund 10 Metern Was­ser­tie­fe haben ein enor­mes und bis heu­te kon­se­quent igno­rier­tes Gefah­ren­po­ten­zi­al, das nur mit geziel­ten Sicherungs- und Sanie­rungs­maß­nah­men gelöst wer­den kann. Der vor­ste­hen­de Arti­kel ent­hält dazu einen durch­dach­ten Vor­schlag in Ver­ant­wor­tung und Für­sor­ge­pflicht gegen­über Mensch und Umwelt.

Anmerkungen:
* Kontakt zum Autor per E-Mail: stefan-nehring@web.de
1. Originalzitat der obigen Übersetzung: War Diary of No. 21 Regional Port Control Team R. E., October 1945, Lubeck, 29th: „Capt L J Hoppe on board tug ‚Travemunde‘ accompanied hopper barge experimentally loaded with enemy CW ammo to dumping ground in Lubeck Bay. Experiment of dumping from hopper barge successfuIly carried out.“ TNA WO171/5866
2. Deutscher Bundestag, Drucksache 13 / 4652 vom 17. Mai 1996
3. Böttcher, Claus, et al.: „Munitionsbelastung der deutschen Meeresgewässer – Bestandsaufnahme und Empfehlungen (Stand 2011)“; Hamburg, 2011. Dieser und alle weiteren Jahresberichte des – so der offizielle Name – „Expertenkreises ‚Munition im Meer‘ bei der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Nord- und Ostsee (BLANO)“ sind im Web verfügbar.
4. „Codename ‚Spaten‘ – Giftgas in der Flensburger Förde“;
in: WATERKANT, Jg. 27, Heft 1 (März 2012), Seite 7 ff.
5. „Munitionsversenkungen durch die Bundesrepublik Deutschland – Legende oder Wirklichkeit?“;
in: WATERKANT, Jg. 23, Heft 4 (Dezember 2008), Seite 9 ff. 
6. Vortrag von Manfred Messer auf der BDFWT Fachtagung Kampfmittelbeseitigung; Bad Kissingen, 2019
7. „Munition in der Ostsee: Lübeck braucht Geld für die Bergung“,
Meldung der „Lübecker Nachrichten“ vom 19. Februar 2020
8. Scheffler, Hagen: „Das unbeherrschte Gefahrenpotential am Grund der Ostsee“;
in: Lübeckische Blätter, Jg. 185, Heft 6 (März 2020), Seite 83
9. „Das Problem 50 Jahre negiert“, Meldung in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 8. November 2019
10. Rapsch, Hans-Jürgen, und Fischer, Udo: „Munition im Fischernetz“; Isensee Verlag;
Oldenburg 2000; ISBN 978-3-8959-8673-4.
11. „Nervengas bleibt auf dem Meeresgrund“;
in: WATERKANT, Jg. 25, Heft 1 (März 2010), Seite 20 ff.
12. Jäckel, Kurt: „Untersuchungsbericht über die Versenkung von Kampfstoffmunition der deutschen Wehrmacht nach dem 2. Weltkrieg durch die drei Westmächte (Großbritannien, USA und Frankreich) im Skagerrak und der Biscaya“; Hamburg, 1971.
13. SPIEGEL online: „Weltkriegsbomben am Meeresgrund – Fische mit Tumor“;
Meldung vom 16. Mai 2017