Gröh, Walter: „Freiheit der Meere“ – Die Ausbeutung des ‚Gemeinsamen Erbes‘ der Menschheit;
Edition CON, Bremen 1988; Paperback, ca. 200 Seiten;
ISBN 3-8852-6147-2; Preis 23,00 DM.
Vor etwas mehr als sechs Jahren unterzeichneten die Delegationen von 148 Nationen die Schlussakte der Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen. Damals waren die Zeitungen voll mit Berichten über die Auseinandersetzungen um die Nutzung der Ozeane. Besonders die plötzliche Verschärfung in der Verhandlungsführung durch die USA gab dem Thema kurzfristige Aktualität. Die Frage, ob die USA nach jahrzehntelangem Bemühen um Änderungen im Gesetzestext eine Unterzeichnung des Abkommens am Ende ablehnen würden, wurde zeitweilig in Kaffeepausen und an Mittagstischen diskutiert.
Inzwischen ist die Frage entschieden (117 Staaten haben das Abkommen unterzeichnet, die USA und auch die BRD nicht), und um das internationale Seerecht ist es in der Öffentlichkeit ruhiger geworden. Hinter den Kulissen geht die Auseinandersetzung aber
weiter, und vor allem auf dem Gebiet des Tiefseebergbaus haben die Versuche nicht aufgehört, das Abkommen noch vor seinem Inkrafttreten wirkungslos zu machen. Vor allem in der Bundesrepublik, die dabei neben den USA eine führende Rolle spielt, ist es für alle, die nicht nur am Zeitgeschehen mitleiden, sondern mitgestalten wollen, unumgänglich, sich über die Entwicklung auf dem Gebiet des Seerechts auf dem Laufenden zu halten. „Freiheit der Meere“, Walter Gröhs Buch über – so der Untertitel – „die Ausbeutung des ‚Gemeinsamen Erbes der Menschheit‘ “, kommt hier zur rechten Zeit. In acht Kapiteln stellt es die Konflikte, die zur Seerechtskonferenz führten, und ihre Vorgeschichte dar und liefert einen Berg von Fakten und Informationen zur Entwicklung seit der Unterzeichnung der Abschlußdokumente.
„Freiheit der Meere“ ist seit langem das erste Sachbuch über die Nutzung der Meere mit dem Anspruch, das Thema nicht aus der Sicht der herrschenden ldeologie in einer ihrer politischen, akademischen oder populistischen Variationen zu behandeln. Kritische Einstellung zu kapitalistischen Sachzwängen ist seine Grundlage. Seine Stärke liegt in der Zusammenstellung von Daten und Tatsachen, die hinter jedem Schritt der am Konflikt Beteiligten die jeweilige Absicht deutlich werden lässt.
So wird offensichtlich, dass die USA zu keinem Zeitpunkt an einer Internationalisierung des Tiefseebergbaus Interesse hatten und sich nur unter dem Zwang der Umstände dazu bereit fanden; als sich die Umstände änderten, ließen die USA alle Kompromisse fallen und kehrten zu unverhohlener Konfrontation mit der Dritten Welt zurück. Die Manöver der BRD, einem Land mit extrem kurzer Küstenlinie, aber hochentwickelter Meerestechnik, und ihr endgültiger Schwenk auf die Linie der USA werden ebenso deutlich wie die Rolle bundesdeutscher Meeresforschung. Vor allem wird deutlich, wie führende Industrienationen bereits aktiv an der Unterlaufung des neuen Seerechts im Gebiet des Tiefseebergbaus arbeiten.
Diese und andere nützliche Informationen werden nicht ganz ohne Mühe vermittelt. Die Kapiteleinteilung (Seeherrschaft, Militär, Schifffahrt, Fischfang, Meeresverschmutzung, Offshore-Öl, Tiefseebergbau, aktuelle bundesdeutsche Interessen) klingt zwar übersichtlich und logisch, wird aber nicht systematisch eingehalten. So findet man Informationen zum Rohstoffabbau in der Antarktis im Fischfang-Kapitel, Angaben über Verschmutzung des Meeres durch Öl unter der Kapitelüberschrift „Schifffahrt“. Meistens ist das eine Folge des Prinzips, dass flüssiger Stil wichtiger ist als gute Organisation, ein Prinzip, das seine höchste Ausprägung im „SPIEGEL“ gefunden hat. Die Stärken und Schwächen des „SPIEGEL“ sind denn auch Gröhs Stärken und Schwächen: unschlagbar in Informationsgehalt und Detail, mäßig in der Analyse. Gröhs systemkritische Einstellung garantiert optimale Auswahl der angebotenen Information, kann aber über Schwächen in der Analyse nicht hinwegtäuschen.
Besonders fühlbar wird das im Kapitel über die Ölförderung, das den Eindruck erweckt, Ölpreise seien das Ergebnis subjektiver Entscheidungen entweder der OPEC-Minister oder der Aufsichtsräte westlicher Ölkonzerne. Politökonomische Grundlage der Ölpreise ist aber die Tatsache, dass Öl, Kohle, Gas und Wasserkraft in vielen Bereichen der Wirtschaft als Energieträger untereinander austauschabar sind, und dass ihr gemeinsamer Preis durch die Energieform mit den höchsten Produktionskosten bestimmt wird. Dies ist in der Regel die Kohle, so dass das Öl dank seiner extrem niedrigen Produktionskosten großen Extraprofit erbringt. Dieser Extraprofit ist weder unmoralisch noch willkürlich zu beseitigen; er verschwindet erst, wenn die Nachfrage nach Energie so weit sinkt, dass der Energieträger mit den höchsten Produktionskosten aus dem Energiekreislauf genommen werden kann. Ein erstes Ergebnis der OPEC war die Verlagerung des Extraprofits aus den Konten der westlichen Konzerne in die Konten der Länder, wo das Öl gefördert wurde. Direkte Preismanipulation ist nur in sehr begrenztem Rahmen möglich und beruht im wesentlichen auf Kontrolle des Produktionsvolumens, damit der Bedarf für die teureren Energieträger bestehen bleibt.
Am empfindlichsten bemerkbar macht sich die Schwäche der Analyse Gröhs bei der Beschreibung der Entwicklung der Seerechtskonferenz von ihren Anfängen 1973 bis zu ihrer Schlusssitzung neun Jahre später. Gröh beobachtet und beschreibt richtig, dass das neue Seerecht in den siebziger Jahren eine Front gegen die lnteressen der imperialistischen Länder darstellte, von den Ländern der Dritten Welt als solche verstanden wurde, und die USA und ihre Partner in entscheidenden Fragen zum Nachgeben zwang. Ein Jahrzehnt später, auch das arbeitet Gröh deutlich heraus, ist die Dritte Welt in der Defensive, die USA kündigen ihre Zusammenarbeit bezüglich des Seerechts auf, und ihre Alliierten schließen sich dem an. Wie kommt es zu dieser Verdrehung der Fronten? Wie ist es zu erklären, dass eine von vielen vor zehn Jahren so begrüßte Entwicklung des Völkerrechts derartig auflaufen konnte? Gröhs Buch gibt darauf keine Antwort, und so kann es auch die Frage nicht beantworten, was denn zu tun sei, um in die Zeitläufte einzugreifen.
Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren durch den Angriff der Kolonialvölker auf die Kolonialmächte gekennzeichnet. Aus diesem Kampf, der die Kolonialmächte voll in Anspruch nahm und sie davon abhielt, trotz aller Ideologie des Kalten Krieges einen neuen Weltkrieg vorzubereiten, gingen die Kolonien als Sieger hervor. Als Dritte Welt traten sie den ehemaligen Herren in der Seerechtskonferenz von einer Position der Stärke heraus entgegen, mit einigem Recht kann sogar gesagt werden, dass die Seerechtskonferenz ohne das Entstehen der Dritten Welt nicht stattgefunden hätte. In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren änderte sich die Situation grundlegend. Nur wenige der ehemaligen Kolonien hatten der nationalen Befreiung eine grundlegende Umwälzung der inneren sozialen Ordnung folgen lassen und sich damit aus den Gesetzen der kapitalistischen Ökonomie befreit. Die meisten gerieten trotz nationaler Unabhängigkeit in wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit und sahen sich unversehens in der Defensive. Die USA und die ehemaligen Kolonialmächte sind von der Position der Schwäche in die Position der Stärke übergewechselt und haben es nicht mehr nötig zu verhandeln.
Der Hauptgrund für die Entwicktung zurück zu alten reaktionären Positionen, beim Seerecht wie in anderen Bereichen des Lebens, ist die Schwächung der Dritten Welt als Kraft gegen das imperialistische Streben nach Weltherrschaft, und das Fehlen einer
Kraft, die diese Schwächung ausgleichen könnte. Die Menschen in den imperialistischen Ländern selbst haben sich häuslichen Problemen wie der Zerstörung ihrer Umwelt zugewandt, wobei die Dritte Welt ihrem Gesichtskreis beinahe entglitten ist. Ihren Regierungen erleichtern sie so den Versuch, Gewinne der Dritten Welt zunichte zu machen. Ohne aktive Parteinahme der Menschen in der BRD, in den USA und wo auch
immer, für eine Veränderung der internationalen Beziehungen wird die Seerechtskonferenz nicht einmal die mageren Früchte tragen, die in ihr angelegt sind.
Das dokumentiert Gröhs Buch im Detail, auch wenn die Analyse fehlt.
Die Konsequenzen sind aber leicht anzugeben. Vor allem kommt es darauf an, dass das neue Seerecht in Kraft treten kann. Dazu muss es noch von mehr als zwanzig Staaten ratifiziert werden, unter anderem von der Bundesrepublik Deutschland. Etwas Nachhilfe
ist da anscheinend nötig.
Die nächste Front zeichnet sich auch schon ab. Die Gründung des Alfred-Wegener-lnstituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) in der Endphase der Seerechtskonferenz
ist kein Zufall. Meeresforschung geht der Meeresnutzung immer voraus. Nach dem Inkrafttreten des neuen Seerechts wird die Antarktis das einzige Gebiet auf der Erde sein, das noch von Staaten angeeignet werden kann. Die Mitglieder des Antarktis-Clubs (Voraussetzung zur Mitgliedschaft: ein aktives ganzjähriges Antarktis-Forschungsprogramm!) werden sich zwar untereinander über die Aufteilung raufen, sind sich aber einig in der Absicht, die übrigen Nationen von der zukünftigen Nutzung der Antarktis auszuschließen. Argumente, weshalb die Antarktis anders behandelt werden sollte als die Hohe See oder der Weltraum und jeder andere denkbare internationale Raum, gibt es nicht. Ob die Antarktis unter internationale Verwaltung gestellt oder von einigen wenigen Staaten ausgebeutet werden wird, ist deshalb lediglich eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse, und ebenso wie beim Tiefseebergbau gilt auch bei ihr, dass die Menschheit noch lange Zeit ohne Rohstoffe aus der Antarktis auskommen wird, dass „nationale“ Interessen aber die Vergabe der Antarktis an die wirtschaftlich führenden Länder verlangen.
Die BRD ist Mitglied im Antarktis-Club. Wer in der BRD wohnt, ist deshalb besonders gefordert. „Greenpeace“ allein wird die Internationalisierung der Antarktis nicht durchsetzen können, trotz einer ganzjährig operierenden Forschungsstation. Der Druck auf die Regierungen muss schon aus dem eigenen Land kommen. Die Argumente für die Auseinandersetzung mit den Politikern gibt es in Gröhs Buch. (mtom)
mtom – Autor Matthias Tomczak (1941-2019) war als in Kiel tätiger Meereswissenschaftler Anfang der 1970er Jahre an den ersten Seerechtskonferenzen beteiligt – und zwar als wissenschaftlicher Berater der damaligen „Blockfreien“-Bewegung von Dritt-Welt-Staaten. Obwohl er später in Australien forschte und lehrte, hat er das Projekt WATERKANT Zeit seines Lebens kontinuierlich freundschaftlich, schreibend und finanziell unterstützt.