Wie die Nordseeregion wurde, was sie ist – Rezension

Pye, Micha­el: Am Rand der Welt – Eine Geschich­te der Nordsee;
Frank­furt / Main, 2017; S. Fischer Ver­lag GmbH; Hard­co­ver, 475 Seiten;
ISBN: 978-3-1000-2483-1; Preis 26,00 Euro.

Was für ein Buch! Anstren­gend. Ver­gnüg­lich. Lehr­reich. Eigent­lich völ­lig dane­ben und doch pri­ma. Klingt ver­wir­rend? – So ist die­ses Buch.

Schon der Titel sorgt, wenn man die ers­ten Sei­ten oder auch nur das knap­pe Inhalts­ver­zeich­nis gele­sen hat, für Ver­wir­rung. Nein, dies ist kei­ne Geschich­te eines Mee­res mit Rif­fen, Sän­den, Wat­ten sowie mari­ner Fau­na und Flo­ra. Es geht nicht um die Fra­ge, wie die Nord­see ent­stan­den, wie sie sich phy­si­ka­lisch oder bio­lo­gisch ent­wi­ckelt hat. Die­ses Buch ist pure Anthro­po­zen­trik – es geht um die Nord­see­re­gi­on als Lebens­raum für Völ­ker, als Akti­ons­feld für Erobe­rer, als Sied­lungs­ge­biet, als Kulturraum.

Micha­el Pye (72) ist ein Oxford-Historiker, der laut Ver­lags­an­ga­be für diver­se bri­ti­sche Medi­en als Kolum­nist und Repor­ter tätig war und heu­te „abwech­selnd in Lon­don und Por­tu­gal“ lebt. Es mag die­se Kom­bi­na­ti­on von Wis­sen­schaft­ler und Jour­na­list sein, die Pye zu einem bril­lan­ten Erzäh­ler macht, der für einen flüs­sig und ange­nehm les­ba­ren Text­zu­sam­men­hang auch mal in Kauf nimmt, sei­nen Faden zu ver­lie­ren, um ihn spä­ter aber gekonnt wie­der auf­zu­neh­men. Man­che, die über sein Buch geschrie­ben haben, wer­fen ihm man­geln­de geo­gra­fi­sche Genau­ig­keit vor oder ver­mis­sen kla­re Zeit­leis­ten; irgend­wo stand gar der Begriff „abschwei­fend“. Na, und? Man muss sich auf die­ses Buch ein­las­sen (wol­len), dann ist es – sie­he oben – zwar anstren­gend, aber ver­gnüg­lich und sehr lehrreich.

Ein­gangs war die Rede vom knap­pen Inhalts­ver­zeich­nis: Da fin­den sich – auf den Titel bezo­gen: so skur­ri­le – Schlag­wor­te wie bei­spiels­wei­se die „Erfin­dung des Gel­des“, „Buch­han­del“, „Mode“, „Lie­be und Kapi­tal“ oder „Geschrie­be­nes Recht“. Das klingt nicht nach „Nord­see“ und doch bringt Pyes Erzähl­wei­se dem von Sei­te zu Sei­te neu erstau­nen­den Leser nahe, was dies alles und mehr mit dem Meer zu tun hat. Ja, er springt dabei ger­ne mal zwi­schen Jahr­hun­der­ten hin und her, aber letzt­lich geht es immer um das eine: Auf­zu­zei­gen, wie die Nord­see und ihre Küs­ten die eige­nen Men­schen geprägt und beein­flusst und Men­schen von anders­wo aus wech­seln­den Moti­ven – von Hab­gier bis Erho­lung – ange­zo­gen haben.

Chi­na, Indi­en, Grie­chen­land? Wo immer die Wur­zeln des Gel­des zu suchen sind, für Pyes Nord­see waren es die Frie­sen, die für ihren Han­del auf dem und am „Frie­si­schen Meer“ das Geld „neu erfan­den“. Und das so erfolg­reich, „dass ‚Frie­se‘ im Lon­don des 7. Jahr­hun­derts ‚Kauf­mann‘ bedeu­te­te“. Aber nicht nur Tausch­wäh­run­gen und Zah­lungs­mit­tel mach­ten die­sen Han­del mög­lich. Es bedurf­te auch früh­zei­tig eines Infor­ma­ti­ons­aus­tau­sches – Pye schil­dert, manch­mal detail­ver­liebt, was Bücher außer­halb irgend­wel­cher Kloster-Schreibstuben alles bewirkt haben. Er erzählt von Wikin­gern, die das Meer befuh­ren, eben­so wie von Mon­go­len, die die Regi­on zwar nie erreich­ten und den­noch ihre Ent­wick­lung beein­fluss­ten. Pira­ten und Kauf­leu­te ver­schie­de­ner Epo­chen sind für Pye eben­so abwechs­lungs­rei­che The­men wie Kuren an der Küs­te oder die Pest. Er schreibt über Herr­schafts­for­men in vie­len Aus­wüch­sen, über freie Denk­wei­sen und bru­ta­le Ent­rech­tung, über Hygie­ne und Sex, über Akti­en und Kriege.

Man muss sich auf die­ses Buch ein­las­sen – unbe­dingt. Es ist ein Gewinn.

Burk­hard Ilschner