Steensen, Thomas: Die Friesen – Menschen am Meer; Kiel/Hamburg, 2020; Wachholtz Verlag;
Hardcover, 290 Seiten; ISBN 978-3-5290-5047-3; Preis 20,00 Euro
Was für ein Buch! – Ein Buch, das gelesen haben sollte, wer immer sich für die Nordsee interessiert, denn es hilft zu verstehen, was so besonders ist an diesem Meer und seiner Küste, wie es die Menschen entlang dieser Küste prägt (und umgekehrt); wobei hier vor allem der südwestliche Teil entlang des niederländisch-deutsch-dänischen Wattenmeers gemeint ist, denn das ist, grob gesagt, die Region, in der „die Friesen“ zuhause sind. Aber dazu später mehr.
Thomas Steensen wurde in Nordfriesland geboren, war Zeitungsredakteur und Agenturkorrespondent an der Westküste Schleswig-Holsteins, ist nach Studium im fernen Kiel als promovierter Historiker nach Nordfriesland zurückgekehrt und war mehr als 30 Jahre lang Leiter und Direktor des „Nordfriisk Instituut“ in Bredstedt, hat zudem Lehrtätigkeiten in Kiel und Flensburg ausgeübt. Jetzt, im Ruhestand, hat er – na, ja: vermutlich nicht zum ersten Male… – seine angestammte Region verlassen und sich auf eine Reise durch die Friesenlande begeben, um dieses herrliche Buch zu schreiben. Es ist selten, aber vor dem Hintergrund der kurzgefassten Vita nicht überraschend, dass einem Wissenschaftler eine so durchgehend fesselnde Schreibe gelingt: Sie macht dieses Buch abseits allen vermittelten Wissens auch zum einem Lesevergnügen.
Das liegt mit Sicherheit auch daran, dass Steensen im Aufbau des Buches Fakten historischer Forschung, die „Aufdröselung“ von Sagen und Gerüchten sowie eigene Beobachtungen und Erfahrungen auf geschickte Weise vermengt: Einiges wird in getrennten Kapiteln aneinander gereiht, anderes auch mal durcheinander serviert. Insgesamt ergibt es eine flüssige – und, ja, teilweise auch originelle – Erzählung, die sowohl lehrreich als auch unterhaltend ist.
Steensen erläutert sorgfältig, dass es eigentlich das Land der Friesen so gar nicht gibt, beschreibt geographische und kulturelle Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen den Westfriesen in den heutigen Niederlanden, den Ostfriesen entlang der deutschen Nordseeküste und den Nordfriesen in Schleswig-Holstein nördlich der Eider. Der Hinweis, dass der niedersächsische Landkreis Friesland gar nicht dazu gehört, sondern zum Oldenburgischen zählt, während das abseits im Oldenburger Münsterland liegende Saterland quasi ur-ostfriesisch ist, darf natürlich nicht fehlen.
Tiefs und Torf und Tee und Trachten
Das Buch informiert über Siedlungsgeschichte im Kontext natürlicher Landschaftsentwicklung, erklärt die Entwicklung und Besonderheiten der friesischen Sprache(n). Es liefert Beispiele, wie Handel, Wirtschaft und wechselnde politische Rahmenbedingungen dazu beigetragen haben, dass die Friesen trotz gelegentlicher, aber vereinzelt gebliebener Einigungsbemühungen es nie geschafft haben, so etwas wie ein definiertes Friesentum, geschweige denn eine politische Einheit herauszubilden. Steensen schildert aber auch, was es denn historisch mit dem Begriff der „Friesischen Freiheit“ und seiner Bedeutung für die Identitätssuche auf sich hat. Und er erzählt – abwechslungsreich und oft auch unterhaltsam – von Tiefs und Torf und Tee und Trachten (und vielen anderen weiteren Details).
Mehr als die Hälfte seines Buches schließlich beschreibt er Eindrücke einer in mehreren Etappen absolvierten Fahrradtour durch alle friesischen Lande; dabei lernt man nicht nur viele lokale Besonderheiten kennen, sondern man erfährt auch einiges über die Menschen, die er getroffen hat – über den Fährmann, der keine Fahrkarten kennt, oder den Nordfriesen, der „ohne Punkt und Komma“ redet, „ganz anders, als gemeinhin der ‚typische Friese‘ beschrieben wird“. Er erzählt Man lernt ebenso etwas über unterschiedliche Baustile wie über Verhaltens- und Sichtweisen. Wer Langeweile sucht, sollte die Finger von diesem Buch lassen…
Allerdings ist dieses Buch auch in gewisser Weise ein Hilferuf eines sozusagen bekennenden Friesen: Immer wieder setzt sich Steensen auseinander mit den überwiegend äußeren Einflüssen, die das Friesische – und das meint hier sowohl die verschiedenen Sprachen und Dialekte als auch Kultur, Eigenheiten und Bewusstsein – in den friesischen Landen gefährden. Er beschreibt, wie gesellschaftliche Gegenwart, Arbeitswelt, Mobilität oder Medien dazu beitragen, dass „Friesisches“ unterzugehen droht, weil zu wenig für Erhalt oder gar Ausbau getan wird. Somit bleibt zu hoffen, dass diese liebevolle Bestandsaufnahme nicht in absehbarer Zeit zu einem Nachruf wird – vielleicht hätte sich der Autor in diesen Teilen in Diktion und Engagement etwas weniger zurückhalten sollen.
Eine Nachbemerkung sei gestattet: Was dem reichhaltig illustrierten Buch – fast alle Fotos stammen vom Verfasser selbst – eindeutig fehlt, ist eine Karte, besser vielleicht sogar mehrere, um die geschilderte Entwicklung der friesischen Lande anschaulich(er) zu machen.
Burkhard Ilschner