Steffens, Dirk, und Habekuss, Fritz: Über Leben – Zukunftsfrage Artensterben: Wie wir die Ökokrise überwinden; München, 2020; Penguin Verlag; ISBN 978-3-3286-0131-9; Preis 20,00 Euro
Dieses Buch ist wichtig, informativ, hilflos und zugleich ein bisschen gefährlich: wichtig für aktuelle gesellschaftspolitische Debatten, in diesem Kontext insbesondere für Laien informativ, weil es gut lesbar und verständlich geschrieben ist. Es wirkt aber hilflos, weil es dem weit reichenden Anspruch – „Wie wir die Ökokrise überwinden“ – nicht gerecht wird; wobei die Kritik nicht der Hilflosigkeit gilt, sondern dem Anspruch. Zugleich vereinfacht es (zu) viel, was in gefährliche Irrwege münden kann.
Die Autoren sind ohne Zweifel kompetent: Dirk Steffens, Moderator der Fernsehdokumentationen „Terra X“, agiert auch als „nationaler Botschafter“ für die (nicht unumstrittene) internationale Naturschutzstiftung WWF und hat gemeinsam mit seiner Ehefrau, einer Unternehmensberaterin, selbst eine Stiftung für Biodiversität gegründet. Fritz Habekuss hat sich seit etlichen Jahren einen Namen gemacht als (auch ausgezeichneter) Wissenschaftsjournalist vorwiegend bei der ZEIT. Die Menschheit, so schreiben beide, befände sich „mitten im sechsten Massenartensterben“ der Erdgeschichte und erlebe „den größten Artenschwund seit dem Aussterben der Dinosaurier“. Global betrachtet, seien von etwa acht Millionen bekannten Pflanzen- und Tierarten rund eine Million akut vom Aussterben bedroht, jeden Tag verschwänden geschätzte 150 Arten von diesem Planeten. Der Klimawandel, so beider provokante These, bedrohe die Art und Weise, wie wir leben. „Nur“, müsste man eigentlich hinzufügen, denn: „Das Artensterben stellt infrage, ob wir überhaupt leben.“
Engagiert und mit viel Empathie beschreiben Steffens und Habekuss ausführlich, was „Biodiversität“ für den Menschen bedeutet; nichts im Alltag sei unberührt von der biologischen Vielfalt. Sie schwärmen von der Bedeutung einer Amsel, sie berichten, wie dauerhafter Blick ins Grüne das eigene Wohlbefinden steigern kann. Sie erläutern, was Artenvielfalt evolutionsbiologisch heißt und welche Rolle der Mensch spielt – sowohl als Teil der vielfältigen Natur als auch als Zerstörer vieler ihrer Teile. Sie erinnern, wie viele Warnungen bereits missachtet wurden, liefern plastische Beispiele, schreiben, wie erwähnt, ebenso informativ wie verständlich. Salopp gesagt: Das liest sich so weg.
Die Sache mit den „Eigenrechten“
Dies sei kein „Weltuntergangsbuch“, betonen Steffens und Habekuss: „Wenn es um die Erde geht, ist Optimismus Pflicht.“ Das klingt vielversprechend, wird jedoch im zweiten Teil des Buchs nur bedingt erfüllt. Denn auf der Suche nach Lösungen verheddern sie sich in ihren eigenen Ansprüchen, wenn sie etwa hinterfragen, wie Ökonomie, Politik und Gesetze verändert werden müss(t)en, um Homo Sapiens ein Überleben in Vielfalt zu ermöglichen. Unter anderem thematisieren sie hier die Debatte um die so genannten Eigenrechte der Natur, beschreiben etwa die diesbezüglichen Entwürfe des US-Amerikaners Christopher D. Stone aus den 1970ern, erwähnen die gescheiterte Hamburger Robbenklage 1988, erzählen vom Whanganui-Fluss in Neuseeland sowie vom aktuellen Streit in den USA um ein Klagerecht des Mississippi.
Aber sie erwähnen mit keinem Wort, dass solche Ansätze schon seit den 1980er Jahren auch scharf kritisiert worden sind, unter anderem aus antifaschistischen Kreisen: Die Einsetzung der Natur als Subjekt von Rechten im menschlichen Rechtssystem könne schließlich nur durch Menschen vollzogen werden, so lautet zusammengefasst eine Hauptkritik – es bleibe aber offen, welche Natur und welche Art derart privilegiert werden solle (und welche nicht) und welche Menschen das dann mit welcher Legitimation vollziehen dürfen. Zwar verweisen die Autoren selbst auf Warnungen vor „Öko-Diktatur“, geißeln Parolen vom „Klimanotstand“ und mahnen – verknüpft mit Erfahrungen aus der Corona-Pandemie – eine Stärkung der Demokratie an: Ohne „sehr schnelle und sehr radikale Veränderungen“ der jahrzehntelang eingeübten Politik-Rituale „verlieren wir die Freiheit, uns selbstbestimmt zu beschränken“. Und kurz darauf: „Demokratie kann Krise. Aber wie lange kann sie im Krisenmodus bleiben, ohne Schaden zu nehmen?“ Trotz solcher Befürchtungen und weiterer, durchaus Offenheit bekundender Bedenken indes schlagen sie im Rückgriff dann doch wieder „Vetorechte“ für die Natur vor – was eben ein juristisches und/oder politisches Mandat, verliehen und ausgeübt durch Menschen, impliziert.
Die Sache mit dem Kapitalismus
Das mündet in eine Erörterung, die sie als „Systemfrage“ klassifizieren: „Eine Ökonomie, die so kompromisslos auf Wachstum geeicht ist wie unser … Kapitalismus, ist … eher Teil des Problems als Teil der Lösung.“ Daraus folgt aber nicht etwa eine historisch-materialistische Kapitalismuskritik. Stattdessen stimmen sie (nach einer Philippika gegen zentralistische Ökoplanwirtschaft mit teilweise kruden Beispielen) ein schillernd-illustriertes Loblied auf einen anderen, besseren Kapitalismus an – nämlich einen, der die Privatisierung der Profite nicht ankratzt, die weitere Vergesellschaftung von Umweltfolgeschäden aber unterbindet. Geschehen soll das durch Wiederbelebung des in Vergessenheit geratenen Verursacherprinzips – Stichwort „Managerhaftung“. Ach, wenn‘s doch so einfach wäre…
Das Buch erläutert griffig und nachvollziehbar die jede und alle berührende Bedeutung von „Biodiversität“ und macht deutlich, dass gegen das „Artensterben“ etwas getan werden muss. Aber in der Erörterung der Wege und Mittel bestätigt es doch nur wieder den Adorno-Satz „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“. Den Kapitalismus mit seiner Profitgier, seinen unsozialen und unökologischen Facetten zu kritisieren – was Steffens und Habekuss teilweise leidenschaftlich tun –, ist eine Sache. Die Kritik aber nicht zu Ende zu denken und das System für reformierbar zu erklären, das kann nur in der Sackgasse enden.
Wenn man schon keine griffigen Alternativen zum Kapitalismus parat hat – und wer hat die derzeit schon? –, sollte man wenigstens dem Kapitalismus jene Art von Schranken ziehen, die diesen an seine Grenzen stoßen und ins systemische Schleudern geraten lassen. An der Frage des Artensterbens könnte man beispielsweise den altbekannten Widerspruch zwischen Ökologie und (kapitalistischer) Ökonomie schnell zum Tanzen bringen anhand der Frage, was der Mensch auf der Erde und mit der Erde tun darf – und was nicht. Genauer: Warum nicht einem wiederbelebten „Verursacherprinzip“ ein reaktiviertes und verschärftes „Vorsorgeprinzip“ vorschalten? Wer aus Profitstreben in irgendeiner Weise gefährdend in die Natur und ihre Vielfalt eingreifen möchte, muss vorher nachweisen, dass sein Tun die Biodiversität nicht einschränkt – wäre das nicht möglicherweise eine Option, das Leben über-leben zu lassen?
Burkhard Ilschner