Vielfalt von klein bis groß – Rezension

Stock, Mar­tin, und Schrö­der, Tim: Wun­der­welt Wat­ten­meer – Das Welt­na­tur­er­be neu entdecken;
Bie­le­feld, 2020; Deli­us Klasing Ver­lag; Hard­co­ver, 160 Seiten;
ISBN 978-3-6671-1860-8; Preis 19,90 Euro

Eine span­nen­de Fra­ge soll am Anfang die­ser Betrach­tung ste­hen: Wie vie­le Bücher über das Wat­ten­meer, sei­ne Beson­der­hei­ten und Bewoh­ner hat Mar­tin Stock eigent­lich schon mit sei­nen her­aus­ra­gen­den Pho­tos illus­triert? – Die­se Fra­ge soll, nein: muss an die­ser Stel­le lei­der unbe­ant­wor­tet blei­ben. Denn ers­tens wäre sie ob der Viel­zahl selbst durch sorg­fäl­ti­ge Recher­che wohl nur schwer zu beant­wor­ten. Und zwei­tens spielt es inso­fern kei­ne Rol­le, als jedes Buch mit Pho­tos von Mar­tin Stock ein neu­es, ein her­aus­ra­gen­des Erleb­nis ist. Und das gilt unein­ge­schränkt auch für die­ses neue Werk.

Stock ist stu­dier­ter Bio­lo­ge und hat nach eige­nen Anga­ben sei­ne ers­ten Watt-Erfahrungen als Zivil­dienst­leis­ten­der auf der Hal­lig Lan­gen­ess im nord­frie­si­schen Wat­ten­meer gesam­melt. Heu­te arbei­tet er bei der Ver­wal­tung des Natio­nal­parks Schleswig-Holsteinisches Wat­ten­meer. Die­ses Buch hat er gemein­sam mit dem Wis­sen­schafts­jour­na­lis­ten Tim Schrö­der gemacht: Der Olden­bur­ger – eben­falls Bio­lo­ge, eben­falls Ex-„Zivi“ – hat sich nach jour­na­lis­ti­scher Aus­bil­dung und ers­ten Erfah­run­gen bei der hei­mi­schen „Nordwest-Zeitung“ Anfang des Jahr­tau­sends selbst­stän­dig gemacht und ist seit­her für sei­ne Arbei­ten mit meh­re­ren Medi­en­prei­sen aus­ge­zeich­net wor­den. Stock hat die Bil­der, Schrö­der die Tex­te gelie­fert – und her­aus­ge­kom­men ist ein höchst infor­ma­ti­ves und lei­den­schaft­lich enga­gier­tes Buch, ein ein­dring­li­ches Plä­doy­er für die Bedeu­tung und die Schutz­be­dürf­tig­keit des Wattenmeers.

Von wegen langweilig…

Man­che mögen das Wat­ten­meer als lang­wei­lig emp­fin­den“, beginnt Schrö­der sei­ne die Stock’schen Pho­tos beglei­ten­den und rah­men­den Tex­te – ein guter Anfang, denn der schreit ja gera­de­zu danach, wider­legt zu wer­den. Schrö­der erzählt von sal­zig schme­cken­der Luft, den Rufen zahl­lo­ser Vogel­ar­ten, vom Knis­tern des Watt­bo­dens. Er beschreibt Prie­le und Strö­me, erklärt Unter­schie­de zwi­schen Sand- und Schlick­watt, zwi­schen Inseln und Hal­li­gen oder auch – wie könn­te es anders sein – zwi­schen Ebbe und Flut. Er erläu­tert, wie all dies und mehr ver­schie­de­ne Lebens­räu­me im Wat­ten­meer prägt, formt und beein­flusst. Und er stellt natür­lich aus­führ­lichst die viel­fäl­ti­gen Bewoh­ner all die­ser Lebens­räu­me vor, von den „small Five“ bis zu den mas­si­gen Kegel­rob­ben. Neben den Gezei­ten wid­met er sich zudem den wech­seln­den Jah­res­zei­ten und Wit­te­rungs­ver­hält­nis­sen, schil­dert die Ent­ste­hung und Funk­ti­on der Dünen. Er geht auf „Neu­bür­ger“ – das meint ein­ge­wan­der­te Arten – eben­so ein wie auf kon­ti­nu­ier­lich wech­seln­de Watt­be­woh­ner, die Zug­vö­gel­ar­ten. All das und mehr geht ein­her mit (manch­mal etwas sehr zurück­hal­ten­den) Erör­te­run­gen, wie Kli­ma­wan­del und ande­re anthro­po­ge­ne Ein­flüs­se das Wat­ten­meer in Tei­len und als Gan­zes bedrohen.

Tim Schrö­ders Tex­te sind flüs­sig und gut les­bar, er pflegt bei aller Sach­lich­keit eine locke­re Schrei­be, die gut geeig­net ist, Men­schen ohne oder mit gerin­gen Vor­kennt­nis­sen für die Belan­ge des Wat­ten­meers zu begeis­tern. Aber, ganz ehr­lich, die Tex­te allein könn­ten nicht annä­hernd das leis­ten, was die Pho­tos von Mar­tin Stock in der Kom­bi­na­ti­on bewir­ken. Das Buch ist äußerst packend illus­triert: Mit abwech­selnd ganz-, anderthalb- und dop­pel­sei­ti­gen Auf­nah­men aus der Luft, mit dem Weit­win­kel oder detail­fo­kus­siert erzeugt es eine opti­sche Wucht, die das Blät­tern und Stö­bern auch zum wie­der­hol­ten Male zum einem Ver­gnü­gen macht. Es ist ein­fach fas­zi­nie­rend, die gera­de­zu spek­ta­ku­lä­ren Licht- und Farb­stim­mun­gen der groß­for­ma­ti­gen Bil­der anzu­schau­en; es zei­gen sich manch­mal unwirk­lich anmu­ten­de Mus­ter, wenn es Stock gelingt, Schlick­flä­chen, Sand­bän­ke, Pri­el­sys­te­me, Vogel­schwär­me oder Dünen fast gemäl­de­ar­tig abzubilden.

Lei­der gehö­ren in den Lobes-Wein ein paar Trop­fen Was­ser: Es ist vom Lay­out her unprak­tisch, den tol­len Pho­tos nur gele­gent­lich auch Bild­be­schrei­bun­gen zu gön­nen – nicht jede Auf­nah­me, nicht jedes Detail eines Bil­des erklärt sich selbst, und manch­mal hilft auch die Lek­tü­re des Tex­tes nicht wirk­lich wei­ter, die neben­ste­hen­de oder nach­fol­gen­de Abbil­dung zu ver­ste­hen. Und sicher wäre das Buch – gera­de für Lai­en – auch taug­li­cher, wenn es ein Stichwort-Register bekom­men hät­te; das wür­de Watt-Neulingen, die viel­leicht nicht nur gucken, son­dern auch ler­nen möch­ten, hel­fen, sich bes­ser zurecht zu finden.

Eike Nar­ringa