Yvonne Adhiambo Owuor: Das Meer der Libellen – Roman; Köln, 2020;
Dumont Buchverlag; Hardcover, 608 Seiten; ISBN 978-3-8321-8114-7; Preis 24 Euro.
Wow, was für ein Buch! Spannend? Zweifellos. Aber es ist in Stil wie Inhalt auch verstörend und verwirrend. Gut lesbar? Die Antwort ist ein entschiedenes Nein. Und dennoch ist es fesselnd und lässt einen vor dem Schluss nicht los. – Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Dieser Wälzer fasziniert, drängt danach, zu Ende gelesen zu werden. Trotzdem könnte es sein – so der spontane Eindruck nach der Lektüre –, dass er kein zweites Mal mehr in die Hand genommen wird; mal sehen, ob’s dabei bleibt…
„Meer der Libellen“ nennt man an der afrikanischen Ostküste jenen Ozean, der hierzulande der Indische genannt wird. An seinem westlichen Rande liegt im Nordosten Kenias die Insel Pate, Hauptschauplatz eines Romans, der eigentlich nur die Geschichte eines Mädchens beziehungsweise später einer jungen Frau erzählt. Und der doch zugleich – zumindest ansatzweise – ein historisches Epos, eine kulturenübergreifende Erzählung und ein politischer Thriller ist. „Ansatzweise“ heißt, dass all diese Elemente das Geschehen (mit) bestimmen, teilweise aber nur angedeutet, fast nie detailliert oder gar begründet ausgebreitet werden. Es bedarf politischer und gesellschaftlicher Allgemeinbildung, um alle Zusammenhänge zu begreifen – eine anregende Herausforderung, die aber in Stil und Erzählweise zur manchmal verstörenden und verwirrenden Wirkung maßgeblich beiträgt.
Indischer Ozean oder Meer der Libellen? – Allein diese beiden so unterschiedlichen und doch dasselbe beschreibenden Begriffe offenbaren die Widersprüchlichkeit aufeinander prallender Kulturen. Und damit sind nicht nur die im Roman vorkommenden gemeint, sondern auch deren Konfrontation mit der ganz anderen Kultur hiesiger Lesender: Als Mensch der Nordseeküste sieht man sich gepackt von und gefordert zu einer Auseinandersetzung mit etwas weitgehend Fremdem, das einem zudem noch auf sehr ungewohnte Weise nahegebracht wird. Denn Yvonne Adhiambo Owuor, die der deutsche Verlag als angesehene kenianische Autorin beschreibt, befleißigt sich in ihrem zweiten Roman eines Stils, der ziemlich gewöhnungsbedürftig ist: Das wechselt – mal sanft, mal rasant, gelegentlich auch explosiv – zwischen erzählender Beschreibung, poetischer Wucht sowie hier und da überbordendem Pathos. Das fesselt, berührt, verwirrt und befremdet, man verschlingt einen Teil des Buches, fühlt sich von einem anderen gelangweilt – insbesondere, wenn Owour sich wieder einmal in nichtendenwollender Metaphorik verliert – und man liest doch fasziniert weiter. Bis zum überraschenden Ende…
Es ist die Geschichte eines Mädchens auf Pate, das in einer engen Inselgemeinschaft aufwächst – als Außenseiterin, weil die Gemeinschaft, ebenso archaisch wie religiös, sie als Tochter einer alleinerziehenden und deshalb sozial ausgegrenzten Mutter nicht akzeptiert. Das Mädchen, Ayaana, sucht sich ebenso selbstbewusst wie zerrissen eigene Ausdrucksformen und Strukturen und findet sie unter anderem am und im Ozean. Ihre Meeresverbundenheit äußert sich vielfältig, wird beschrieben als Schönheit, Naturerlebnis oder Lebensschule, aber auch als Bedrohung oder als sozialen Halt gebend, etwa, wenn sich Ayaana ausgerechnet einen gestrandeten, alternden Seemann als Ersatzvater aussucht.
Sie wächst auf, sie erlebt, sie lernt. Sie wird konfrontiert mit – fragmentarisch eingeflochtenen – zeitgeschichtlichen Erlebnissen: Mal sind es im Nordosten wütende Piraten, deren Tun bis nach Pate wirkt, dann ein zerstörender Tsunami, mal wilde Soldateska oder Terroristen islamistischer Prägung, zwischendurch wird Pate Kriegsschauplatz US-amerikanischen Wütens unter dem Etikett angeblichen Anti-Terror-Kampfes. Es sind Ereignisse von globaler politischer Wucht, die bis ins kleine Pate wirken und die heranwachsende Ayaana prägen. Sie erlebt brutalen Missbrauch durch arabische Potentaten, sie gerät missverstandener Liebe wegen in zweifelhafte türkische Nobelkreise, in denen Profite aus Kriegs- und Waffengeschäften ebenso selbstverständlich sind wie archaische Familienstrukturen von Zwangsverheiratung und sexueller Unterdrückung.
Aber sie erlebt auch verwirrend Aufregendes. Owour bedient sich an einem realen historischen Beispiel und strickt daraus ein fiktives Stück der Lebensgeschichte Ayaanas: Es gehört zu den aktuellen Gegebenheiten, dass China in Afrika Präsenz zeigt, das Konzept der neuen maritimen Seidenstraße lässt grüßen. Aber es ist nicht das erste Mal: Vielmehr stellt sich heraus, dass chinesische Eroberer bereits im 15. Jahrhundert Spuren auf Pate hinterließen – auch Samenspuren: Durch genetische Tests wird nachgewiesen, dass Ayaanas Urururgroßvater ein gestrandeter Seefahrer der Ming-Dynastie war. Damit gerät sie in ein abstruses Kulturprojekt der Herrschenden in Beijing, bekommt als „Nachfahrin“ ein Bildungs- und Studienprogramm geboten, reist per Schiff nach China, wird ebenso gefeiert wie drangsaliert, schafft es aber, sich zu behaupten. Per Nautikstudium wird sie selbst zur Seefahrerin, die wiederum verwirrende berufliche wie persönliche Verstrickungen erlebt, an denen sie allerdings wächst und sich entwickelt.
Und Ayaana kehrt zurück nach Pate. Aber während diese ausnehmend abenteuerliche Geschichte durch häufige Wechsel im Erzählstil, durch Abschweifungen in besagte politische und historische Fragmente sowie durch überraschende Zeitsprünge der Handlung kompliziert zu lesen ist und doch nahezu durchgehend fesselt, endet sie erschreckend nüchtern. Man hätte der ebenso zerrissenen wie sturen, der ebenso selbstbewussten wie vielfältig erfahrenen Ayaana ein deutlich anderes Schicksal gegönnt, als Autorin Owour es ihr letztlich gewährt. Schade.
Peer Janssen