Von Spekulanten und Ratten – Rezension

Schor­lau, Wolf­gang: Kreuz­berg Blues – Roman; Köln, 2020; Kie­pen­heu­er & Witsch;
Hard­co­ver, 416 Sei­ten; ISBN 978-3-4620-0079-5; Preis 22,00 Euro.

Ober­fläch­lich betrach­tet, gibt es eigent­lich kei­nen Grund, die­ses Buch auf einer Web­sei­te wie die­ser vor­zu­stel­len – denn „mari­tim“ ist auf den ers­ten Blick nichts an/in die­sem Roman. War­um dennoch?

Ganz ein­fach: Sehr schnell wird klar, dass „Kreuz­berg“ exem­pla­risch gewählt ist. Es geht im Kern um Immobilien- und Miet-Spekulation, um glei­cher­ma­ßen ver­ur­sa­chen­de wie nutz­nie­ßen­de Rück­sichts­lo­sig­keit gegen­über Schwä­che­ren, und zwar mit teil­wei­se erheb­li­cher kri­mi­nel­ler Ener­gie. Und das ist ein The­ma, das nicht nur für Metro­po­len wie die Haupt­stadt Ber­lin rele­vant und aktu­ell ist, son­dern in unter­schied­li­chen Aus­prä­gun­gen auch in etli­chen gro­ßen wie klei­ne­ren Kom­mu­nen bei­spiels­wei­se vie­ler Küs­ten­re­gio­nen bekannt sein dürf­te – sozu­sa­gen „von Emden bis Stral­sund und anderswo“.

Autor Wolf­gang Schor­lau soll zudem laut Radio­sen­der SWR2 in einem Inter­view fest­ge­stellt haben, der Immo­bi­li­en­markt habe sich „eine Ermitt­lung von Georg Deng­ler hart erar­bei­tet“. Das mag anspie­len auf die Tat­sa­che, dass dies der bereits zehn­te Fall der Schorlau’schen Detektiv-Figur Georg Deng­ler ist, mit her­aus­ra­gen­den Ent­hül­lun­gen und erfolg­rei­chen Ver­bre­chens­auf­klä­run­gen in Pharma- oder Fleisch­in­dus­trie, in Wasser- oder Rüs­tungs­wirt­schaft, in alten Nazi- und neu­en Faschisten-Kreisen, von natio­na­len Skan­da­len (Treu­hand) wie inter­na­tio­na­len Machen­schaf­ten (Grie­chen­land) ganz zu schwei­gen. Das deu­tet aber auch dar­auf hin, dass Schor­lau davon aus­geht, auf der Suche nach Kor­rup­ti­on, Bestechung, Finanz­tricks, Abzo­cke, Aus­beu­tung oder Macht­miss­brauch in nahe­zu allen Berei­chen des gesell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Lebens fün­dig wer­den zu kön­nen: Kein Wun­der in einer Rea­li­tät, in der Ren­di­te mehr wert ist als Moral.

Fik­ti­on und Fakten

Kurz und gut: Georg Deng­ler über­nimmt in die­sem Roman in Ber­lin einen Fall von mut­maß­li­cher Ent­mie­tung mit­tels bös­ar­ti­gen Vor­ge­hens – Rat­ten spie­len dabei eine Rol­le, aber mehr wird hier nicht ver­ra­ten – und gerät dabei in einen Sumpf von Immo­bi­li­en­spe­ku­la­ti­on, Häu­ser­kampf, Staats­ver­sa­gen (nicht nur) in der Wohn­po­li­tik sowie einer faschis­to­iden Ver­schwö­rung. Wie bei Schor­lau üblich, stellt sich das Spin­nen­netz, das Deng­ler da zu zer­rei­ßen hat, als eine gekonn­te Mischung aus Fik­ti­on und knall­har­ter Recher­che dar. Immer wie­der trifft Deng­ler auf Men­schen, die in eben­so span­nend gehal­te­nen wie unter­halt­sa­men Mono- oder Dia­lo­gen hand­fes­te Hintergrund-Informationen lie­fern zu dem gera­de geschil­der­ten, erfun­de­nen Hand­lungs­strang: mit bes­ten Grü­ßen aus der Wirk­lich­keit. Apro­pos: Als die­ser Roman enstand, hat­te Ber­lin gera­de sei­nen so genann­ten „Mie­ten­de­ckel“ beschlos­sen – in weni­gen Wochen wird das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt über eine Beschwer­de von Unions- und FDP-Abgeordneten gegen die­se Spe­ku­lan­ten­blo­cka­de ent­schei­den: Span­nend. Zurück zum Roman: Wem der Fiktion-Fakten-Mix à la Deng­ler nicht genügt, dem lie­fert Schor­lau auf sei­ner Web­sei­te eine Aus­wahl seriö­ser Quel­len, aus denen er selbst sei­ne Infor­ma­tio­nen bezo­gen hat. Ach, ja, und weil er auch die Aktua­li­tät liebt, hat er die Corona-Pandemie samt eini­ger ihrer Leug­ner gleich mit verarbeitet.

Wer Deng­lers Ermitt­lun­gen kennt, wird sti­lis­tisch auch die­ses Mal nicht ent­täuscht: Schor­laus Erzähl­wei­se ist geprägt von schnel­len Wech­seln zwi­schen ver­schie­de­nen Hand­lungs­strän­gen. Das geht meist ein­her mit kur­zen Kapi­teln und sorgt so trotz gele­gent­li­cher Mühe, den Über­blick zu behal­ten, für abwechs­lungs­rei­che und daher bele­ben­de Lek­tü­re. Klar: Figu­ren wie Deng­ler und sei­ne Freun­din Olga las­sen, weil sie nicht umhin kön­nen, im sys­te­mi­schen Dreck zu wüh­len, hier und da auch mal sprach­lich oder argu­men­ta­tiv Fün­fe gera­de sein; das schließt def­ti­ge Aus­drucks­wei­se eben­so ein wie unver­blüm­te Par­tei­lich­keit. Das ist nicht nur hin­nehm­bar, das ist in Ord­nung – und soll­te nicht, wie gesche­hen im „staats­tra­gen­den“ [:-)] NDR, den Rezen­sen­ten berech­ti­gen, Schor­lau dar­aus einen mora­li­schen Strick zu drehen.
Was übri­gens eine geeig­ne­te Über­lei­tung bie­tet zu einer per­sön­li­chen Schluss­be­mer­kung (samt Rück­griff auf das „War­um“ am Anfang die­ser Bespre­chung): Es wäre wirk­lich mal an der Zeit, Georg Deng­ler in einem Fall aus dem Umfeld der mari­ti­men Wirt­schaft ermit­teln zu las­sen. Denn mit Finanz- und Steu­er­tricks, Lob­by­is­mus, Macht­miss­brauch oder Aus­beu­tung kennt man sich in Schiff­fahrt, Schiff­bau und Hafen­wirt­schaft aus. Soll­te, was einem Niels Stol­berg nach­ge­wie­sen (und all­zu glimpf­lich geahn­det) wur­de, wirk­lich alles gewe­sen sein, was in der Bran­che das Prä­di­kat „kri­mi­nell“ ver­dient? Deng­ler, über­neh­men Sie!

Burk­hard Ilschner