Balcombe, Jonathan: Was Fische wissen – Wie sie leben, spielen, planen:
unsere Verwandten unter Wasser; Hamburg, 2020; mare verlag;
Paperback, 336 Seiten; ISBN 978-3-8663-9625-3; Preis 18,00 Euro.
Sensible Menschen, die auch gerne Fisch essen, sollten dieses Buch nicht lesen. Obwohl Jonathan Balcombe, in den USA lebender englischer Verhaltensbiologe, auf explizite Appelle wie „Esst keine Fische!“ verzichtet, zielt sein Buch erkennbar auf genau dieses Ergebnis. Nicht nur die Untertitel-Verknüpfung, es handele sich um unsere „Verwandten unter Wasser“, macht das deutlich. Auch sein wiederholt nachdrückliches Werben für Empathie weist in diese Richtung.
Zunächst bilanziert er die ungeheure Vielfalt, spricht von mehr als 30.000 bekannte Arten. Er beschreibt Lebensgewohnheiten von Fischen, ihre Wahrnehmungsfähigkeit und Gefühlswelten, ihre Denkprozesse und Eigenarten, ihr Sozialverhalten und Sexualleben. Plastische Schilderungen, wie Fische auf intelligente Weise Werkzeug einzusetzen vermögen, stehen neben eindrucksvollen Erläuterungen etwa ihres Liebeslebens: „Offenbar hatten … Fische als Erste die Art Sex, die Spaß macht.“
Balcombe verbindet wissenschaftliches Interesse, das an Hingabe grenzt, mit Formulierungsleidenschaft und oft verblüffendem Reichtum an Fakten- und Detailkenntnissen. Und indem er diese Kombination mit wahrem Enthusiasmus zu einem Buch werden ließ, beschert er uns eine geradezu mitreissende Lektüre – ein Sachbuch, das Wissen vermittelt, mit Überraschungen nicht geizt und dennoch flüssig und oft unterhaltsam lesbar ist. Es hätte ihm übrigens gut getan, wenn Autor oder Verlag die eine oder andere erwähnte Fischart auch bildlich vorgestellt hätten.
Trickreiche Problemlöser
Abwechslungsreich aber ist das Buch allemal – was eindeutig auch den vielfältigen Erkenntnissen über „den Fisch“ zuzuschreiben ist. Balcombe stellt „unsere Verwandten“ als nicht nur empfindsame, sondern auch als lernfähige Wesen vor. Er liefert Verhaltensbeispiele vielfältiger und anregender Phantasie, schildert kooperatives Agieren, ausgefeilte Kommunikation, beeindruckende Sinnesleistungen, verspielte Anteilnahme. Vom Werkzeuggebrauch war eingangs bereits exemplarisch die Rede, aber dass Fische über teilweise trickreiche Problemlösungsstrategien verfügen beziehungsweise, sich den jeweiligen Umständen anpassend, solche entwickeln können, lässt sie fast als entschlusskräftige Wesen erscheinen. Manches, diese Anmerkung sei gestattet, wirkt so überraschend, dass der lesende Laie nicht sicher unterscheiden kann, was naturwissenschaftlich belegt und was empathieheischende Interpretation ist.
Selbstverständlich kann ein Buch über Fische nicht darauf verzichten, den Umgang des Menschen mit ihnen zu kritisieren. Die häufigsten Zielarten der gigantischen Fangflotten, so Balcombe, seien die vielen Raubfische, folglich seien deren Bestände allein im 20. Jahrhundert „um mehr als zwei Drittel reduziert“ worden. Andererseits erkennt er an, dass indigene Fischergesellschaften „seit Beginn der Geschichte“ mit Wildfischen im Einklang lebten. Dazwischen listet er multiple Fehlverhaltensweisen auf, prangert die Grundschleppnetzfischerei ebenso an wie die mit Langleinen oder Ringwadennetzen, verdammt die künstliche Aufzucht in Aquakulturen und erst recht Auswüchse wie Beifangvernichtung, Geisternetze oder Flossenraub, aber auch das Angeln als Massensport. Und selbst ungefangene Fische sind Opfer des Menschen: Von rund 125.000 entwickelten Industriechemikalien seien mehr als 85.000 bereits in Fischen nachgewiesen worden.
Allerdings kann zu viel Bemühen um Empathie auch zum Verlust der Bodenhaftung führen: Wenn Balcombe nämlich im Bemühen, Fischen „zu einem höheren Stellenwert zu verhelfen“, über Moral und Ethik schreibt und in diesem Zusammenhang vergleichend anmerkt: „Schließlich verwehren wir Menschen mit Entwicklungsstörungen nicht ihre grundlegenden Rechte“ – dann ist das einfach nur daneben. So etwas wertet sein interessantes und ansonsten sehr lesenswertes Buch leider etwas ab.
Burkhard Ilschner