Brutale Realität, spannende Unterhaltung – Rezension

Schor­lau, Wolf­gang, und Caio­lo, Clau­dio: Der Tintenfischer –
Com­mis­sa­rio Morel­lo ermit­telt in Vene­dig; Roman; Köln, 2021;
Kie­pen­heu­er & Witsch; Paper­back, 293 Seiten;
ISBN 978-3-4620-0101-3; Preis 16,00 Euro.

Wenn Autoren nach gelun­ge­nem Ein­stieg mit bestimm­ten, neu­en Roman­fi­gu­ren einen zwei­ten Band mit den­sel­ben Akteu­ren vor­le­gen, stellt sich immer als ers­tes die Fra­ge: Schaf­fen sie es, die Wel­le zu rei­ten oder gehen sie unter?

Ums kurz vor­weg zu neh­men: Wolf­gang Schor­lau und Clau­dio Caio­lo haben die Her­aus­for­de­rung gemeis­tert, der zwei­te Fall ihres ita­lie­ni­schen Ermitt­lers Anto­nio Morel­lo ist ein eben­so enga­gier­ter wie unter­halt­sa­mer wie span­nen­der Kri­mi­nal­ro­man – nur mit einer ein­zi­gen, klit­ze­klei­nen Ein­schrän­kung: Essen und Kochen sind bekannt­lich Geschmacks­sa­che – die Fra­ge „wen interessiert‘s?“ aller­dings auch. Es wirkt aus Sicht des Rezen­sen­ten auf­ge­propft, wenn in einem Polit­kri­mi bei­na­he wie zu Johan­nes Mario Sim­mels Zei­ten Koch­re­zep­te aus­ge­brei­tet wer­den. Das wäre ver­zicht­bar gewesen.

Sieht man aller­dings – es sind ja nur vier – davon ab, so bleibt fest­zu­hal­ten, dass Schor­lau und Caio­lo nach ihrem Erst­lings­werk „Der freie Hund“ mit dem zwei­ten Morello-Band „Der Tin­ten­fi­scher“ bril­lan­te, durch und durch zeit­ge­mä­ße Unter­hal­tung gelie­fert haben. Zwar ist der wie­der­keh­ren­de Unter­ti­tel – „Com­mis­sa­rio Morel­lo ermit­telt in Vene­dig“ – die­ses Mal nicht ganz zutref­fend, aber das erklärt sich schnell aus dem Zusammenhang.

Natür­lich star­tet die Hand­lung in Vene­dig, wohin der Sizi­lia­ner Morel­lo ja sei­ner­zeit wegen Ärgers mit der hei­mi­schen Mafia ver­setzt wor­den war: Es ist eine fast men­schen­lee­re Stadt, denn die Pan­de­mie hat die „Sere­nis­si­ma“ nahe­zu all ihrer Tou­ris­ten­mas­sen beraubt. Morel­lo fin­det das eben­so erhol­sam wie befremd­lich – bis er plötz­lich mit einer Rea­li­tät kon­fron­tiert wird, die ihn her­aus­for­dert: Von einer Brü­cke springt ein jun­ger Afri­ka­ner in erkenn­bar selbst­mör­de­ri­scher Absicht. Morel­lo und sei­ner Kol­le­gin Anna Klot­ze gelingt die Ret­tung, aber ihr anschlie­ßen­des Bemü­hen, die Hin­ter­grün­de des ver­such­ten Sui­zids auf­zu­klä­ren, offen­bart ihnen nicht nur erschre­cken­de Erkennt­nis­se, son­dern führt sie im wei­te­ren Ver­lauf auch von Vene­dig nach – Sizilien.

Bei dem geret­te­ten Afri­ka­ner, David, han­delt es sich näm­lich um einen Flücht­ling im dop­pel­ten Sin­ne: Nach gelun­ge­nem Ent­kom­men aus einem hoff­nungs­lo­sen Lebens­all­tag in Nige­ria erwar­te­te ihn auf Sizi­li­en rohe Aus­beu­tung, weil sei­ne hei­mi­sche Schlepper-Gang mit der dor­ti­gen Mafia ver­ban­delt ist, die sich per Men­schen­han­del Arbeits­skla­ven und Pro­sti­tu­ier­te beschaf­fen lässt. Ohne hier mehr Details zu ver­ra­ten als unbe­dingt nötig: Nur mit viel Glück gelingt David eine zwei­te Flucht von Süd- nach Nord­ita­li­en, aber die Hoff­nungs­lo­sig­keit bleibt bei ihm und treibt ihn schließ­lich zum Selbst­mord­ver­such. Erst in Morel­lo und Klot­ze fin­det er die Men­schen, die ihm Hil­fe zum Über­le­ben bie­ten. Nur müs­sen sie dafür eben nach Sizi­li­en. Das geschieht zwar, wird aber für den von der Mafia gejag­ten Morel­lo zu einer fast selbst­mör­de­ri­schen – indes über­ra­schungs­reich geschil­der­ten – Geheimaktion.

Wie gesagt, nicht mehr Details als nötig: Trotz aller kri­mi­ge­recht span­nen­den und aller auch unter­halt­sa­men Ele­men­te offen­bart die­ser Roman eine eben­so bru­ta­le wie aktu­el­le Wirk­lich­keit: Es geht um inter­kon­ti­nen­tal ver­netz­te orga­ni­sier­te Kri­mi­na­li­tät, es geht um jenes Flücht­lings­elend, für das die sich abschot­ten­de Euro­päi­sche Uni­on maß­geb­li­che Mit­ver­ant­wor­tung trägt, es geht um Kor­rup­ti­on in Ita­li­en, die tief in alle gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren ver­wur­zelt ist und deren Metho­den von Erpres­sung und Raub bis Ver­skla­vung und Mord reichen.

Ach, ja, eines soll doch ver­ra­ten wer­den: Der zwei­te Morello-Roman von Schor­lau und Caio­lo endet so wie der ers­te – mit der Aus­sicht auf eine wei­te­re Folge.

Burk­hard Ilschner

www.jungewelt.de