Deen, Mathijs: Der Holländer – Roman; Hamburg, 2022; mareverlag;
Hardcover, 263 Seiten; ISBN 978-3-8664-8674-4; Preis 20,00 Euro
Dies ist einer der viel zu seltenen Fälle, da ein Buchcover exakt widerspiegelt, was der Inhalt tatsächlich mit sich bringt: Eine düstere Wattlandschaft, fesselnd, neugierweckend, beeindruckend; darin zwei Menschen, die trotz ihres Miteinanders Einsamkeit ausstrahlen. Chapeau!
Dieser Roman von Mathijs Deen vermittelt trotz gelungener kriminalistischer Spannung eine unnachahmliche Gelassenheit. Es bleibt allerdings offen, ob das der Mentalität des Autors, eines durch Herkunft und Werdegang erkennbar küsten- und meeresaffinen Menschen, entspringt oder seiner schreiberischen Finesse. Die Titelfigur, „der Holländer“, ist eigentlich nur ein halber: Liewe Cupidos Mutter ist Deutsche, sein Vater Niederländer, er ist aufgewachsen auf Texel, aktuell aber Kriminalbeamter in Cuxhaven. Wegen seiner Kenntnisse beider Länder und Sprachen trägt er bei seinen Kollegen besagten Spitznamen, gilt als wortkarger und zäher Einzelgänger und wird zur – halb verdeckten – Aufklärung eines Todesfalls besonderer Art abkommandiert.
Auf der Sandbank De Hond, westlich des Fahrwassers der Außenems zwischen Deutschland und den Niederlanden, wird ein toter deutscher Wattwanderer gefunden – Fan einer dem Rezensenten bislang unbekannten Extremsportart: dem Langstreckenwattwandern, in diesem Fall über geschätzt mehr als 20 Kilometer von der Krummhörn-Küste bei Manslagt hinüber zur Insel Borkum. Der „Extremist“, gestartet gemeinsam mit einem Kameraden, ist aus vorerst ungeklärten Gründen vom Wege abgekommen. Sein verwirrt wirkender Kumpel hat zwar Borkum erreicht und den Begleiter als vermisst gemeldet, gefunden wird der Leichnam aber von einem niederländischen Patrouillenboot auf dem Weg von Delfzijl nach Eemshaven.
Wem gehört die Sandbank?
Und hier beginnt einer von drei zentralen Handlungssträngen, die diesen Roman so gleichermaßen spannend wie unterhaltsam machen: Das Boot bringt den Leichnam nach Delfzijl, obwohl die Sandbank in jenem Gebiet liegt, in dem zwar irgendwo die Staatsgrenze zwischen den Niederlanden und Deutschland verläuft, ohne aber bis heute völkerrechtlich verbindlich festgelegt worden zu sein. Mehrere Staatsverträge regeln zwar das Miteinander, dies aber leider nicht perfekt. Für Deen ist diese verwirrende Situation ein Anlass, die Verhältnisse nicht ohne Sarkasmus aufzuspießen: Während nämlich die Zusammenarbeit von Polizei und Gendarmerie an der Basis weitgehend reibungslos vonstatten geht, plustern sich auf beiden Seiten Vorgesetzte auf und liefern sich amüsante Hahnenkämpfe.
Randnotiz
Es ist nicht unamüsant, wenn ein Niederländer einem erklärt (Seite 26), in dem umstrittenen Grenzgebiet herrsche Zusammenarbeit im „Geiste guter Nachbarschaft“ ohne „nennenswerte Probleme“; es habe lediglich einmal ein „Scharmützel“ zwischen Groninger Reusenfischern und ihren ostfriesischen Konkurrenten gegeben.
Irrtum. Seit dem von Deen erwähnten Staatsvertrag von 1960 hat es immer wieder Reibereien und Auseinandersetzungen gegeben, beispielsweise um die gemeinsame Erdgas-Förderung durch den deutschen Shell-Esso-Ableger BEB Erdgas und Erdöl GmbH und den niederländischen Konzern NAM (Nederlandse Aardolie Maatschappij B.V.). Anschließende Streitigkeiten führten zu einer schiedsgerichtlich angeordneten BEB-Zahlung an NAM von knapp fünf Milliarden D-Mark. Weitere Beispiele liefern die Streitigkeiten um das Kohlekraftwerk Eemshaven, den Offshore-Windpark Riffgat oder den Gasspeicher Jemgum und das Fracking-Problem.
Zwar trat im Juni 2016 ein neuer Staatsvertrag in Kraft, der im Oktober 2014 „auf der Ems“ unterzeichnet worden war, aber auch der klammert die Grenzziehung wieder aus, beschränkte sich auf den Anspruch, „der maritimen Wirtschaft zu beiden Seiten der Emsmündung Rechtssicherheit“ zu geben. Oder, mit den Worten des damaligen Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD): „Statt uns mit Fragen der Grenzziehung aufzuhalten, bieten wir der Schifffahrt, Windparkbauern und der Hafenindustrie pragmatische Lösungen zu beidseitigem Nutzen.“ – Warten wir’s ab…
Der tote Deutsche ist, wie sich herausstellt, durch Gewalteinwirkung ums Leben gekommen. Also gibt es Ermittlungen, von deutscher Seite wird Cupido mit dem Fall betraut. Wie Deen nun dessen Arbeit schildert – ein eigenwilliger Charakter, der mit anderen, oft nicht minder eigenwilligen Charakteren konfrontiert wird, der auf beiden Seiten der undefinierten Grenze Spurensuche zu betreiben hat, während um ihn herum Behördenchefs um den Verbleib des Leichnams streiten und andere Skurrilitäten passieren –, das entwickelt sich zu einem zweiten roten Faden durch den Roman: Spannung pur bei gleichzeitig hohem Unterhaltungsniveau.
Und schließlich – nicht zuletzt – entknotet der Autor noch die etwas verworrenen Binnen- wie Buten-Verhältnisse der Extremsportler: Der Tote und der Überlebende haben nämlich eigentlich noch einen dritten Partner, der an der fraglichen Krummhörn-Borkum-Tour nicht einfach nur hätte teilnehmen sollen, sondern sie maßgeblich mit geplant und vorangetrieben hatte. Warum daraus nichts wurde, was die Drei (samt gegenwärtiger und verblichener Angehöriger) miteinander auszumachen haben und welche Folgen das alles zeitigt – das gehört zum dritten Spannungsstrang.
Es ist ein Lesevergnügen, miterleben zu dürfen, wie Deen aus der Verflechtung dieser drei Fäden seine Geschichte entwickelt, dabei noch jede Menge Neuigkeiten über den Extremsport Wattwandern einwebt oder mit beeindruckender Erzählwucht die Schönheit des Wattenmeers, seine Vielfalt und seine Gefahren darstellt. Und es weckt massive Neugier, auf der Webseite des Autors zu erfahren, dass „Der Holländer“ nur der erste Band einer Krimi-Serie für den mare-Verlag ist, der zweite Teil sei unter dem Arbeitstitel „Der Taucher“ bereits in Arbeit und fürs kommende Frühjahr geplant: her damit! Burkhard Ilschner