Schöne, wilde Wasserwelt - oder nicht? – Rezension

Kan­ter, Olaf: Rand­meer – Band 7 der Serie „Euro­pean Essays
on Natu­re and Land­scape“; Ham­burg 2023, KJM-Buchverlag;
Hard­co­ver, 140 Sei­ten; ISBN 978-3-9619-4222-0; Preis 20,00 Euro.

Natür­li­che Wild­nis oder anthro­po­gen ver­än­der­ter Lebens­raum? – The­ma die­ses Büch­leins aus der tol­len KJM-Essay-Serie ist die Nord­see, für den Autoren (und SPIEGEL-Redakteur) Olaf Kan­ter ein „Objekt“ der Lei­den­schaft, der Begeis­te­rung, aber auch der Ängs­te. Kan­ter liebt die Nord­see, auch wenn sie nur ein „Rand­meer“ des gro­ßen Atlan­tiks ist, der Hobby-Segler schwärmt von die­sem Meer und, ja, er lei­det auch mit ihm. Im Wesent­li­chen geht es ihm in sei­nen teil­wei­se sehr per­sön­li­chen Zei­len um die Wider­sprü­che, mit denen er „sein“ Meer, aber auch sich selbst auf dem Meer oder an des­sen Küs­ten kon­fron­tiert sieht: „Ich muss ein­räu­men, dass ich … eine idea­li­sier­te Vor­stel­lung habe von die­ser schö­nen wil­den Wasserwelt.“

Sein Ver­such, die­ses Netz von Wider­sprü­chen dar­zu­stel­len und auf­zu­drö­seln, ist – soviel sei vor­ab ver­ra­ten – ein Lese-Erlebnis. Für Men­schen, die mit der Nord­see mehr oder weni­ger ver­traut sind, bie­tet die­ses Buch zwar wenig Neu­es; aber durch die Art und Wei­se, wie Kan­ter sich „sei­nem“ Meer sprach­lich nähert, wird man dafür mehr als ent­schä­digt. „Schutz durch Nut­zung“ (was offi­zi­ell natür­lich immer „nach­hal­ti­ge“ Nut­zung meint) ist eine äußerst belieb­te Flos­kel von Poli­tik, Ver­wal­tung und Pla­nern. Kan­ter räumt mit die­sem Anspruch auf, er nennt ihn zwar an kei­ner Stel­le offen „ver­lo­gen“ – aber wie er damit auf­räumt, läuft es ziem­lich genau dar­auf hinaus.

Lesen, ler­nen und begreifen…

Viel wich­ti­ger ist jedoch ein ande­rer Aspekt: Die­ses Buch ist wie geschaf­fen, um an jun­ge wie älte­re Mit­men­schen ver­schenkt zu wer­den, die die Nord­see bis­lang nicht oder wenig ken­nen, aber drin­gend ken­nen­ler­nen soll­ten. Denn gera­de die­se Rezi­pi­en­ten ler­nen dabei nicht nur eine Men­ge über die­ses geo­lo­gisch jun­ge Meer, son­dern sie erfah­ren auch, war­um die­ses Wis­sen wich­tig ist für das Begrei­fen der Nord­see in ihren heu­ti­gen Struk­tu­ren und damit für ihre anhal­ten­de Gefähr­dung durch anthro­po­ge­ne Nutzung.

Nur“ 150 Mil­lio­nen Jah­re alt… – Kan­ter beschreibt die Ent­ste­hung, das Wer­den, Wach­sen und Ver­än­dern die­ses „Rand­meers“, erzählt von Sturm­flu­ten und Tsu­na­mis, von Dog­ger­land und Rung­holt, erklärt die Unbe­stän­dig­keit des Wat­ten­meers samt sei­ner Inseln und Hal­li­gen. Man erfährt Details über Fau­na und Flo­ra, über Gezei­ten, Strö­mun­gen und Win­de; und selbst­ver­ständ­lich nicht nur über Fische und Fischer, son­dern auch über Fische­rei­strei­tig­kei­ten und See­rechts­kon­fe­ren­zen. Man liest über den Gold­rausch der Ölkon­zer­ne, über Schiff­fahrt und spek­ta­ku­lä­re Schiffs­un­fäl­le und lan­det schließ­lich beim aktu­el­len Geran­gel um immer mehr Offshore-Windparks und gefähr­de­te See­vö­gel oder Meeressäuger.

Kan­ter schreibt eben­so flüs­sig wie ver­ständ­lich, erklärt Sach­ver­hal­te und Zusam­men­hän­ge so, dass sie nach­voll­zieh­bar begrif­fen wer­den kön­nen ohne ein Gefühl der Auf­dring­lich­keit oder des Belehrt­wer­dens ent­ste­hen zu las­sen. Die Kom­bi­na­ti­on von sach­li­chen, aber nicht unemo­tio­na­len Tex­ten und ein­ge­streu­ten per­sön­li­chen (Segel-)Abenteuern schafft eine Lese­at­mo­sphä­re, die kei­nen Moment Lan­ge­wei­le auf­kom­men lässt.

Aber vor allem ist es ange­nehm fes­selnd mit­zu­er­le­ben, wie er nicht nur schil­dert, erläu­tert und kri­ti­siert, son­dern letzt­lich auch klar Posi­ti­on bezieht: „Wir müss­ten uns ent­schei­den, … Das Meer ein biss­chen schüt­zen und gleich­zei­tig nut­zen geht wohl nicht.“

Burk­hard Ilschner