Scales, Helen: In 80 Meerestieren um die Welt – illustriert von Marcel George;
Berlin 2023; Laurence King Verlag; Hardcover, 200 Seiten;
ISBN 978-3-9624-4289-7; Preis 26,00 Euro
Dies ist ein Bilderbuch für Erwachsene – und was für eines! Halt: Wer bei dieser Einleitung an Comics oder dergleichen denkt, liegt ziemlich schief. Auf dieses Buch muss, nein, sollte man sich einlassen wollen; es bedarf dazu eines Grundinteresses an mariner Thematik und, ja, der Bereitschaft, sich anspruchsvolle Unterhaltung zu gönnen.
Wer diese Voraussetzungen mitbringt, wird mit einer äußerst abwechslungsreichen Palette lehrreicher, aber oft auch vergnüglicher Information belohnt – und bekommt obendrein noch eine knallbunte Illustrationsflut beschert, die immer trefflich zum jeweiligen Inhalt passt, allerdings häufig ihrerseits Anforderungen stellt an die Phantasie des Lesenden. Was will mensch mehr?
Schluss mit den Schwülstigkeiten: Meeresbiologin Helen Scales präsentiert, wie der Titel es sagt, 80 ausgewählte Meerestiere – nicht immer beschränkt sie sich dabei auf einzelne Arten, sondern schließt gelegentlich Gattungsverwandtschaft mit ein. Ihre gleichermaßen lockere wie lehrreiche Erzählweise macht die Texte zu einer angenehmen Lektüre. Man lernt nicht nur die jeweiligen Meeresbewohner in ihren spezifischen Lebensumständen kennen, Scales weitet ihre Beschreibungen oft auch aus auf die Meeresumwelt, deren Situation und Gefährdungslage. Das alles führt zu einer an 80 Beispielen exerzierten Liebeserklärung an unsere Ozeane.
Kein Wunder: Laut Vorstellung des Verlages ist Scales nicht nur Meeresbiologin, die eigene Studien in den Mangroven von Madagaskar, den Korallenriffen von Borneo oder in westafrikanischen Austernwäldern absolviert hat; sie ist zugleich aktive Schriftstellerin und Journalistin, Universitätslehrerin und engagiert in mehreren Meeresschutzorganisationen. Zur auch optischen Attraktion aber wird ihr Buch durch die teilweise quietschbunten Aquarellzeichnungen des Londoner Illustrators Marcel George, der die jeweils vorgestellten Meerestiere meist sachlich, manchmal aber auch in skurrilem oder sarkastischem Umfeld präsentiert. Vielfach sind „nur“ die einzelnen Kapitelseiten derart geschmückt, hin und wieder wird einzelnen Tieren aber auch eine Doppelseite extra gegönnt.
Von bizarr bis nützlich
Wie oben bereits angedeutet, sind Scales Porträts durchaus nicht „streng“ wissenschaftlich; nur manchmal widmet sie sich explizit und ausführlich der Biologie der Tiere. Ansonsten erzählt sie viel über auffällige Eigenschaften, über Fähigkeiten, die beispielsweise prägend waren oder sind für die Wahrnehmung der jeweiligen Art durch den Menschen. Sie beschreibt Farbgebungen, Körperformen oder -maße und ihre jeweilige Funktion für das Überleben des betreffenden Tiers. Sie skizziert Merkmale, die etwa besonders bizarr anmuten oder die gar zu nützlichen Anwendungen oder Erkenntnissen führen.
Was haben Störe mit der Eindämmung der Syphilis zu tun? Wieso interessiert sich die US-Marine für Schleimaale? Welche Bedeutung hat die Schuppenfußschnecke für die Energiewende mit Solarpaneelen und wachsender E-Mobilität? Wie schafften es Sägerochen in Mythen und Märchen unterschiedlichster Völker von Panama über Senegal bis Papua-Neuguinea? – Es sind solche Details, über die Scales vieldutzendfach berichtet und damit dieses Buch so vielseitig macht. Aber sie versäumt es nie, auch auf bedrohliche Zusammenhänge hinzuweisen, auf Folgen beispielsweise menschlichen Fehlverhaltens für Artenbestand, Biodiversität oder den Zustand der Ozeane in ihrer Gesamtheit.
In ihrer Einleitung zu diesem tollen Buch schreibt Helen Scales: „Lange Zeit haben die Menschen den Ozean wie einen unendlichen Vorratsschrank behandelt. Gleichzeitig wurde er zum Endlager für alle Abfälle der Menschheit. Heute wissen wir, dass er beides nicht sein kann.“ – Zwar muss diese letzte Feststellung bedauerlicherweise voreilig genannt werden, aber Scales scheint das bewusst zu sein, denn am Schluss mahnt sie uns alle: „Lassen Sie sich nicht mit vagen Aussagen über Nachhaltigkeit abspeisen.“ Sicher ist, dass ihr Buch genau dazu beitragen kann.
Burkhard Ilschner