Renner, Andreas: Nordostpassage – Geschichte eines Seewegs; Hamburg, 2024;
mareverlag; Hardcover, 272 Seiten; ISBN 978-3-8664-8684-3; Preis 28,00 Euro
Eines ist sicher: Andreas Renners „erste umfassende Monographie über die Erschließung der Nordostpassage“ (Klappentext) ist ein spannendes und lehrreiches Buch, das man, einmal begonnen, vor Abschluss kaum wieder aus der Hand legen mag. Die Rede ist vom uralten Traum vieler Seefahrer und Forscher, die Strecke zwischen dem Europäischen Nordmeer und der Tschuktschen-See per Schiff zurücklegen zu können. Was lange Zeit vom arktischen Eis erschwert – oft auch verhindert – wurde, wird seit vergleichsweise wenigen Jahren wegen der Folgen des Klimawandels immer dauerhafter nautisch möglich.
Der in München lehrende Historiker Renner wagt einen großen Wurf. Sein „Überblick über die gesamte Geschichte“ dieses Seewegs-Traums beginnt im 16. Jahrhundert – die Ära „vor 1500“ wird nur stichwortartig erwähnt – und reicht bis in die Gegenwart. Einerseits hat Renner ein herausragendes Werk vorgelegt, in dem er sehr detailliert aufschlussreiche, oft auch bislang unbekannte Fakten über diese Arktisregion liefert. Er schreibt meist ebenso verständlich wie informativ wie, wenn‘s passt, auch unterhaltsam. Andererseits hätte das Buch als prima Geschichtsschmöker mit Abenteuerflair dastehen können, wenn der Autor sich nicht zu häufig und oft leider auch unsachgemäß auf Russlands vermeintliche aktuelle Machtansprüche fokussiert hätte.
Später mehr dazu; zunächst zum Inhalt dieses Fast-Schmökers, der durch ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnisse, Register und Zeitleiste zusätzlich gewinnt und lesenswert wird: Renner beginnt, wie erwähnt, seine Zeitreise vor rund 500 Jahren mit den Unternehmungen des britischen Kaufmanns und Navigators Richard Chancellor und seinen Geschäften „mit Zar Iwan IV., dem ‚Schrecklichen‘“. Er spannt den Bogen über die wagemutigen Fahrten etwa italienischer oder niederländischer Seefahrer im 16. bis zu Vitus Berings legendärer, zehn Jahre dauernder Arktisexpedition im 18. Jahrhundert. Abenteurer und Wissenschaftler wie Ferdinand Wrangel oder Adolf Erik Nordenskjöld im 19. Jahrhundert fehlen ebenso wenig wie Abstecher in andere Arktisbereiche.
Wie schwierig sich die Erforschung dieser Polarregion und eines Seewegs durch sie hindurch gestaltete, wird deutlich unter anderem an den Etappen dieser Erschließung – von Westen ausgehend, erfolgte sie etappenweise von Flussmündung zu Flussmündung gen Osten. Und erst 1932 gelang dem Eisbrecher „Aleksandr Sibirjakow“ erstmals eine Fahrt von Archangelsk durch die Bering-Straße bis Wladiwostok – eindringlich fesselnd die Schilderung der damit verbundenen Strapazen.
Zum aktuellen Teil ist eingangs eine Kleinigkeit zu korrigieren: Ausführlich beschreibt Renner die Fahrt zweier Schwergutfrachter der Bremer Reederei Beluga Shipping im Jahre 2009 von Wladiwostok bis Murmansk. Zu Recht spießt er den hierzulande zelebrierten Medienrummel auf, irrt dann aber leider in einem Detail: Reeder Niels Stolberg hat sein Unternehmen nicht „auflösen“ müssen – er wurde von externen Miteignern, die er selbst „ins Boot“ geholt hatte, über Nacht davon gejagt, als die jene Geschäftspraktiken entdeckten, wegen derer Stolberg später von einer Bremer Wirtschaftsstrafkammer rechtskräftig verurteilt wurde.
Abgesehen von derlei Petitessen verdienen zwei Schlussbemerkungen Renners besondere Erwähnung: „Ohne Klimawandel, Coronapandemie und Ukraine-Krieg hätte ich … die Geschichte des ältesten Seewegs durch die Arktis anders erzählt“, räumt er im „Epilog“ ein. Kurz zuvor hat er den Hauptteil seines Buches beendet mit der Feststellung, der Nördliche Seeweg bedeute für Putin „ein Sprungbrett für Russlands Zukunft und neue Machtfantasien“.
Wladimir Putins Herrschaft über Russland und seine politischen Pläne werden aktuell sehr unterschiedlich beschrieben und bewertet; hier ist nicht die Gelegenheit, dies zu vertiefen. Aber die Art und Weise, wie Renner Moskaus Arktispolitik beschreibt und kommentiert, wirkt in vielerlei Hinsicht unsachgemäß ausufernd und leider auch parteilich. Und das ist schade. Hier nur ein (allerdings markantes) Beispiel dazu:
Während er Lenins Verdienste um die Gründung des – bis heute bestehenden! – Arktisinstituts nur in wenigen Zeilen erwähnt, widmet er sich der Marinedoktrin der Russischen Föderation von 2022 sehr ausführlich. Angeblich werden darin Bestimmungen der UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) von Moskau einseitig interpretiert; die Richtigkeit dieser Behauptung sei hier mal so angenommen. Aber Renner führt als Hauptkritiker dieser Auslegung die USA an – ausgerechnet, möchte man sagen: Denn er erwähnt nur in einem Nebensatz, dass Washington UNCLOS bis heute gar nicht anerkennt; Russland hingegen als Nachfolger der UdSSR zählt zu den Pionieren und Erstunterzeichnern dieses wichtigen Vertrages.
Wenn nun Moskau das in diesem Abkommen festgeschriebene Recht der freien, friedlichen Durchfahrt auch durch küstennahe Gewässer in einer politisch angespannten Situation einschränkt und diesbezüglich Kontrollrechte beansprucht, so ist das eine Sache. Aber gerade die USA, die für ihre eigenen Gewässer und Küsten ein viele Seerechtsnormen ignorierendes Management pflegen und auch international in ihrer maritimen Politik schon seit Jahrzehnten (lange vor Trump) das Prinzip „America first“ beanspruchen, gerade die sollte ein seriöser Wissenschaftler in einer solchen Frage nicht zum Kronzeugen erklären. Wenn nötig, obliegt die Beurteilung solcher Unstimmigkeiten einzig dem Internationalen Seegerichtshof (ITLOS) in Hamburg. Dort jedoch ist bislang kein entsprechendes Verfahren anhängig.
Burkhard Ilschner