Gerstenberger, Heide, und Welke, Ulrich: Arbeit auf See – Zur Ökonomie und Ethnologie der Globalisierung; Verlag Westfälisches Dampfboot; Münster 2004; Paperback, 400 Seiten, inkl. DVD; ISBN 3-8969-1575-4; Preis 29,80 Euro.
Die einen sprechen von „moderner Sklaverei“, andere sehen gewisse Parallelen mit dem Leben im Gefängnis; manche sehen sich als „Weltbürger zweiter Klasse“, wieder andere kritisieren alltägliche „kolonialistische Verhaltensweisen“ – die Rede ist von heutigen Seeleuten, von ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen in der modernen Schifffahrt. Und die Rede ist von einem neuen Buch von – für langjährige WATERKANT-LeserInnen längst vertraut – Heide Gerstenberger und Ulrich Welke von der Forschungs- und Kooperationsstelle Schifffahrt der Universität Bremen.
Im Kern und vom Anspruch her geht es in der Studie um die Globalisierung schlechthin: 90 Prozent aller Welthandelsgüter werden derzeit auf Schiffen transportiert, die Seefahrt liefert die technischen, ökonomischen, logistischen und personellen Voraussetzungen für die Globalisierung des Güterverkehrs. Dies zu beweisen, haben Gerstenberger und Welke in mehrjähriger Forschungsarbeit mit mehr als 200 Seeleuten Gespräche geführt, sind selbst zur See gefahren, haben beobachtet, protokolliert, analysiert und gefilmt. Erste Auszüge aus den Ergebnissen ihrer Arbeit hatte Heide Gerstenberger bereits vor vier Jahren in dieser Zeitschrift vorgestellt (WATERKANT, 2001, Nr. 2, S. 24 ff.).
Die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts brachten der Seefahrt eine Serie radikaler Brüche, eine Umwälzung meist zu Lasten der Seeleute. Es begannen die Ausflaggungen, drastische Personaleinsparungen ließen trotz Automatisierung an Bord den Arbeitsdruck zunehmen. Die einst traditionelle Bindung des Seemanns an Schiff und/oder Reederei ging „über Bord“. Die Schiffe gehören oft anonymen Investoren, die ihre Geschäfte von wechselnden Reedereien und/oder Charterern besorgen lassen. Mannschaften werden von Heueragenturen in aller Welt bunt zusammen gemixt angeworben und in schnellem Wechsel untereinander auf die Schiffe verteilt. An Bord führen sowohl die Unterschiede der Sprachen oder Kulturen als auch der häufige Austausch sowie unterschiedliche Bezahlung nicht nur zu schweren Kommunikationsproblemen, sondern auch zu Sicherheitsrisiken: Zwar haben sich auch auf Billigflaggenschiffen die technischen Standards teilweise gebessert. Trotzdem: Unfälle an Bord und auf See passieren einfach deshalb, weil nicht aufeinander eingespielte Mannschaften mit Handzeichen agieren, deren Bedeutung ebenfalls nicht abgestimmt ist.
Die Fahrtzeiten oder -routen bestimmen weder der Kapitän noch das Wetter, sondern jenes anonyme Management. Die Liegezeiten in den Häfen wurden drastisch verkürzt und zugleich verplant mit notwendigen Reparatur- und Wartungsarbeiten. Die Seeleute kommen oft monatelang nicht von Bord. Weil eine weltweite Vernetzung von Produktionsketten eine billige Transportlogistik braucht, und weil dies in der Kostenstruktur eines modernen Handelsschiffs fast nur über den Faktor Personal erreicht werden kann, sind die Seeleute zunehmend bloße Ladungsbegleiter, oft entwürdigt, eingeschlossen (an Bord) und ausgeschlossen (von der Welt) zugleich. Sie sind der Treibstoff der Globalisierung – und werden entsprechend schnell „verheizt“: Mehr als ein paar Jahre hält das kaum noch einer durch, bevor er an Land oder in andere Branchen wechselt.
Gerstenberger und Welke lassen die Seeleute – aktive wie ehemalige – selbst zu Wort kommen, berichten von familiären Problemen, von physischem und psychischem Druck durch Isolation und lange Trennungen. Diese Art des Berichts, der Wechsel von wissenschaftlicher Betrachtung, ökonomischer Analyse und Erzählung unmittelbar Betroffener – diese Vielfalt ist es, die das Buch zu einem lehrreichen und spannenden Leseabenteuer macht.
Aber damit nicht genug. Die beiliegende DVD enthält einen knapp 70-minütigen Film, der unter dem Titel „A World Apart – Seafaring In The 21st Century“ in englischer Sprache eindrucksvolle Sequenzen über das Leben und die Arbeit an Bord zeigt. Diese DVD eignet sich gut zum Einsatz in höheren Schulstufen oder in der Erwachsenenbildung, als Einführung oder Begleitung etwa zum Unterricht anhand des Buches. Wobei zum Schluss eine einzige, aber deutliche Kritik fällig ist, und zwar am Verlag: Es gibt heute Klebstoffe, mit denen sich CDs und DVDs in Büchern so befestigen lassen, dass sie problemlos entnommen werden können. Reiß-Spuren waren gestern! (-bi-)