Duerr, Hans Peter: Rungholt – Die Suche nach einer versunkenen Stadt; 764 Seiten mit 20 Farb- und vielen Schwarzweiß-Abb.; Insel Verlag, Frankfurt/Main 2005; ISBN 3-4581-7274-2, Preis 28,00 Euro.
Beginnen wir mal ironisch: Nordfriesen oder Dithmarscher, die immer und immer wieder Kreta oder die Ägäis als Urlaubsregion bevorzugen, können möglicherweise gar nichts dafür – denn die Sucht nach dem östlichen Mittelmeer könnte genetisch bedingt sein. Vielleicht stammen nämlich Vorvorfahren dieser Nordseeküstenbewohner aus den fernen griechischen Gefilden…
Blödsinn? Nur bedingt. – Spaß beiseite: Autor Hans Peter Duerr war bis Ende 1999 Professor für Ethnologie und Kulturgeschichte an der Universität Bremen und lebt seither in Heidelberg. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre sorgte er für Aufsehen mit seiner Meldung, er habe die Reste der 1362 in einer Sturmflut versunkenen Stadt Rungholt im schleswig-holsteinischen Wattenmeer zwischen Nordstrand und Pellworm entdeckt. Die Tatsache als solche ist also – obwohl seinerzeit heftig umstritten (später mehr dazu) – inzwischen längst keine Neuigkeit mehr. Dass dennoch im Jahre 2005 ein Buch über die erfolgreiche Suche nach Rungholts Überresten erneut für Schlagzeilen sorgt, das liegt an den Ergebnissen der inzwischen erfolgten Auswertung aller Funde aus dem Schlick des Wattenmeers.
Um den Bogen zurück zur anfänglichen Ironie zu schlagen: Bislang war die Wissenschaft davon ausgegangen, dass die Küsten der heutigen Deutschen Bucht und Jütlands erstmals um 370 v. Chr. Besuch erhalten hatten aus dem Gebiet der damaligen griechisch-römischen Hochkulturen. Der Forscher Pytheas von Massilia soll es gewesen sein, der bis in die Mündungen von Elbe und Weser vorgedrungen war. Duerr hingegen gelang jetzt der Nachweis, dass die ersten Gäste aus dem Mittelmeerraum bereits rund 1000 Jahre früher an der Nordseeküste Station gemacht hatten, und zwar Seefahrer aus dem mykenisch-minoischen Kreta: Etliche seiner Funde aus dem Wattenmeer entpuppten sich nämlich als Scherben, die eindeutig zu kretischen Gebrauchsgegenständen – Kannen, Töpfen, Amphoren – aus jener Zeit gehört haben müssen.
Und eben das schließt laut Duerr auch aus, dass es sich um Überreste von Handelsware gehandelt haben könne, die über Kaufleute auf dem Landwege an die Nordseeküste gelangt war: Welcher Händler hätte denn damals gewöhnliche Haushaltsgegenstände über mehr als tausend Kilometer transportieren und verkaufen sollen? Für wertvolle Waren wäre das ja noch denkbar – aber so? Nein, für Duerr zeugen diese Funde von Forschungs- oder Handelsschiffen, deren Besatzungen ihre nicht mehr benötigten Alltagsdinge über Bord entsorgten (eine Unsitte, die bekanntlich bis heute nicht recht aus der Mode kommen will).
Geschenke aus dem Hindukusch
Auch ein anderer Fund ließ Duerr stutzig werden: Aus dem Rungholt-Watt grub er einen bläulich schimmernden Gesteinsbrocken, der anschließend eindeutig als Lapislazuli aus jener Epoche identifiziert werden konnte. Dieser Schmuckstein aus dem Hindukusch galt damals im Mittelmeerraum (und nur dort war er dokumentiert bekannt) als extrem kostbar, Duerr vermutet, es könne sich beispielsweise um ein Gastgeschenk eines reichen Minoers für einen Mächtigen der Nordseeküste gehandelt haben. Gründe für derartige Beziehungen gibt es durchaus, denn unsere Küsten galten im fernen Mittelmeerraum als das „Bernsteinland“, das goldgelbe Harz war bei Griechen und anderen levantinischen Völkern jener Epoche beliebt und begehrt. Nur leider hatten sich die Mykener mit Hilfe englischer Händler ein Handelsmonopol erkämpft, vielleicht hatten die Minos-Kreter dieses brechen wollen und deshalb ihre Schiffe gen Norden geschickt?
Hier darf nicht der Eindruck entstehen, als gehe es in Duerrs Wälzer ausschließlich um Kreta und Mykene – allerdings scheinen die diesbezüglichen Erkenntnisse so überraschend und, pardon!, originell, dass sie an dieser Stelle das Buch beispielhaft beschreiben helfen sollen. Darüber hinaus schildert Duerr ziemlich umfassend auch seine Funde aus den nachfolgenden Epochen und entwickelt daraus ein lebendiges Bild einer Siedlung, die über viele Jahrhunderte mit vermutlich wechselnder Bedeutung das wirtschaftliche und kulturelle Leben an der Nordsee geprägt haben könnte, bevor sie von den Fluten verschlungen wurde. Trutz, blanke Hans!
„Rungholt“ ist, auch das sei erwähnt, ein sehr persönliches Buch. Duerr beschreibt – überwiegend in Ich-Form – detailliert, wie er in den Norden kam, wie er auf die Idee verfiel, nach Rungholts Resten zu suchen, wie er diese Suche organisierte, durchführte und auswertete. Nicht allein übrigens: Wenn oben von Duerr und „seinen“ Funden die Rede gewesen ist, diente dies lediglich der Vereinfachung und meint immer auch die vielen beteiligten StudentInnen und HelferInnen. Dieser Stil macht das Werk – 418 Seiten plus mehrere hundert Seiten Anmerkungen, Quellen und Register – trotz der relativ trockenen Materie gut lesbar, ein spannendes Entdecker-Abenteuer, sozusagen.
Sehr persönlich ist das Buch aber auch deshalb, weil Duerr sich (allzu!) ausführlich mit der Geschichte der Anfeindungen seiner Arbeit und der ihm in den Weg gelegten Hindernisse auseinandersetzt. Diese besonders im ersten Teil überwiegende Polemik gibt dem Werk leider ein bisschen den Touch „ich spiele die beleidigte Leberwurst“. Duerr hätte mehr Selbstbewusstsein zeigen und sich dieses kleinkarierte Nachkarten schenken sollen. (pj)