November 1918: Den wahren Helden – Rezensionen

Anläss­lich des 100. Jah­res­tags des Kie­ler Matro­sen­auf­stands im Novem­ber 1918 ver­öf­fent­lich­te WATERKANT in der September-Ausgabe (Num­mer 131; Heft 3 / 2018) eine ver­glei­chen­de Betrach­tung aktu­el­ler Ver­öf­fent­li­chun­gen zu den his­to­ri­schen Ereig­nis­sen in Kiel und ihren Folgen.

Alpha­be­ti­sche Bibliographie:
Bol­lin­ger, Ste­fan, et al.: Von der Novem­ber­re­vo­lu­ti­on zum „deut­schen Oktober“;
10 Bei­trä­ge in: Z. – Zeit­schrift Mar­xis­ti­sche Erneue­rung; 29. Jahrgang,
Heft 115 (Sep­tem­ber 2018), Frankfurt/Main; ISSN: 0940-0648; Preis 10,00 Euro
Ger­des, Kay / Kuhl, Klaus: In Kiel ist Revo­lu­ti­on! – Kie­ler Zeit­ge­schich­te im Film;
Kiel, 2018; Gesell­schaft für Kie­ler Stadt­ge­schich­te e. V. / His­to­ri­sche Film­do­ku­men­te Nr. 9;
DVD, Spiel­dau­er 53 Minu­ten; Bezug über http://kurkuhl.de/de/novrev/filme.html
Gie­ting­er, Klaus: Novem­ber 1918 – der ver­pass­te Früh­ling des 20. Jahrhunderts;
Ham­burg, 2018; Edi­ti­on Nau­ti­lus; Paper­back; 270 Seiten;
ISBN 978-3-9605-4075-5; Preis 18,00 Euro.
Jacobs, Kay: Kie­ler Mor­gen­rot – Kri­mi­nal­ro­man; Meß­kirch, 2018;
Gmeiner-Verlag; Paper­back, 312 Sei­ten; ISBN 978-3-8392-2227-0; Preis 13,00 Euro
Kinz­ler, Son­ja / Till­mann, Doris (Hrsg.): Die Stun­de der Matrosen –
Kiel und die deut­sche Revo­lu­ti­on 1918; Kiel/Darmstadt, 2018;
Kie­ler Stadt- und Schiff­fahrts­mu­se­um / Kon­rad Theiss Ver­lag; Hard­co­ver, 304 Seiten;
ISBN 978-3-8062-3698-9; Preis 29,95 Euro
Lie­se­mer, Dirk: Auf­stand der Matro­sen – Tage­buch einer Revolution;
Ham­burg, 2018; mare­ver­lag; Hard­co­ver, 224 Sei­ten; ISBN 978-3-8664-8289-0; Preis 24,00 Euro
Rack­witz, Mar­tin: Kiel 1918 – Revo­lu­ti­on: Auf­bruch zu Demo­kra­tie und Republik;
Kiel/Hamburg, 2018; Wach­holtz Ver­lag – Mur­mann Publishers; Hard­co­ver, 304 Seiten;
ISBN 978-3-5290-5174-6; Preis 19,90 Euro.

Im Novem­ber 1918 waren die Matro­sen, Arbei­ter und Frau­en, die sich erho­ben hat­ten, um einen ver­lo­re­nen Krieg zu been­den und eine bes­se­re Gesell­schaft zu schaf­fen, die wah­ren Hel­den.“ – So for­mu­liert Mar­tin Rack­witz im Schluss­wort sei­nes Buches über den Kie­ler Matro­sen­auf­stand vor knapp 100 Jah­ren: Was in Wil­helms­ha­ven Ende Okto­ber als Matro­sen­meu­te­rei begon­nen hat­te, ent­wi­ckel­te sich in Kiel in nur weni­gen Tagen zu einem brei­ten Volksaufstand.

Wenn heu­te in bun­des­deut­schen Medi­en am – oder um den – 9. Novem­ber his­to­ri­sche Berich­te gesen­det oder gedruckt wer­den, wid­men sich die­se ganz über­wie­gend ent­we­der dem Jah­res­tag des so genann­ten Mau­er­falls in Ber­lin, der 1989 bekannt­lich das Ende der DDR ein­lei­te­te, oder dem Beginn der Mas­sen­pro­gro­me im faschis­ti­schen Deut­schen Reich 1938. Von jenem Auf­stand, mit dem die Mann­schaf­ten der Kriegs­ma­ri­ne ursprüng­lich nur gegen einen letz­ten irr­sin­ni­gen Flot­ten­be­fehl der Admi­ra­li­tät meu­ter­ten und der dann maß­geb­lich dazu bei­trug, sowohl den Ers­ten Welt­krieg zu been­den als auch die Mon­ar­chie im Kai­ser­reich zu stür­zen, ist heut­zu­ta­ge nur äußerst sel­ten die Rede. Iro­nisch könn­te man ver­mu­ten, dass weder Print­me­di­en noch Sen­der sich durch Berich­te über eine anti­mon­ar­chis­ti­sche Revo­lu­ti­on ihr schö­nes Geschäft kaputt machen möch­ten, das aus­ufern­de Glamour-Berichte über „Royals“ und ande­re adli­ge Misch­po­ke in Euro­pa ihnen garantieren.

Auch wenn in die­ser Zeit­schrift mili­tä­ri­sche The­men nur sel­ten eine Rol­le spie­len – der Kie­ler Matro­sen­auf­stand ist ein zwin­gen­der Anlass für eine Aus­nah­me: Es ist ein klit­ze­klei­ner Bei­trag – um noch ein­mal Rack­witz zu zitie­ren –, um „den muti­gen Kie­ler Män­nern und Frau­en des Novem­ber 1918 die Wür­di­gung zukom­men zu las­sen, die sie seit lan­gem ver­dient haben“. Anläss­lich des bevor­ste­hen­den 100. Jah­res­ta­ges die­ses his­to­ri­schen Ereig­nis­ses sind eine Rei­he von Ver­öf­fent­li­chun­gen erschie­nen, die aus aktu­ell heu­ti­ger Sicht auf die­se Gescheh­nis­se schau­en, sie dar­stel­len und auch kom­men­tie­ren. WATERKANT hat eini­ge die­ser Publi­ka­tio­nen bei den Her­aus­ge­bern ange­for­dert, um sie hier vor­zu­stel­len – dies aber aus­drück­lich ohne jeden Anspruch auf Aus­ge­wo­gen­heit oder Voll­stän­dig­keit. Es ist eine gemisch­te Palet­te, die hof­fent­lich die eine oder den ande­ren anregt, sich selbst einen Ein­druck zu verschaffen.

Zwei sol­che Ein­drü­cke, die sich dem Rezen­sen­ten ein­ge­prägt haben, sei­en hier, qua­si gesamt­bi­lan­zie­rend, dem Blick auf die ein­zel­nen Ver­öf­fent­li­chun­gen vor­an gestellt: Ob Sach­buch, Kri­mi oder Info-DVD, sie alle beleuch­ten die Rol­le der dama­li­gen MSPD und ins­be­son­de­re ihres Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten Gus­tav Noske, dem es im Auf­trag von Par­tei­chef Fried­rich Ebert gelang, den Auf­stand in Kiel „zurück­zu­rol­len“ (Lie­se­mer), durch­ge­hend kri­tisch – mal sach­lich, mal scharf. Und sie alle sind – auch hier in unter­schied­li­chen Nuan­cie­run­gen – sich einig, dass man­geln­de Einig­keit und Eini­gungs­fä­hig­keit ver­schie­de­ner lin­ker Kräf­te maß­geb­lich dazu bei­getra­gen haben, aus einer von Kiel übers Reichs­ge­biet gestreu­ten Revo­lu­ti­on eine MSPD-geführte Repu­blik wer­den zu las­sen, die viel zu eng mit dem alten, reak­tio­nä­ren Militär- und Beam­ten­ap­pa­rat ver­ban­delt war. Zu den Wer­ken im Einzelnen:

In Kiel ist Revolution!“

Zwei Kie­ler Filme-Macher, der His­to­ri­ker Klaus Kuhl und der Doku­men­tar­fil­mer Kay Ger­des, die sich schon seit mehr als 30 Jah­ren unter ande­rem mit dem Matro­sen­auf­stand in sei­nen Ursprün­gen, sei­nem Ver­lauf und sei­nen Fol­gen beschäf­ti­gen, haben anläss­lich des 100. Jah­res­ta­ges eine knapp ein­stün­di­ge DVD erstellt, die die dama­li­gen Gescheh­nis­se an der För­de detail­liert beleuch­tet und sie in ihren his­to­ri­schen Zusam­men­hang stellt. Her­aus­ge­ber des Films ist die Gesell­schaft für Kie­ler Stadt­ge­schich­te e. V., das Stadt­ar­chiv hat Unter­stüt­zung geleistet.

Der Film beginnt mit Sze­nen aus dem DEFA-Spielfilm „Das Lied der Matro­sen“ (DDR 1958), aus dem auch im wei­te­ren Ver­lauf noch wie­der­holt zitiert wird. Er arbei­tet aber vor­wie­gend mit his­to­ri­schem Mate­ri­al aus ver­schie­de­nen Quel­len und Archi­ven, addiert dies mit Zeitzeugen-Interviews aus den 1970er und 1980er Jah­ren, bei­spiels­wei­se mit dem ers­ten Kie­ler Arbeiterrats-Vorsitzenden Lothar Popp (USPD), und lässt die Ent­wick­lung unter ande­rem von dem His­to­ri­ker und Pazi­fis­ten Wolf­ram Wet­te erläu­tern und – oft zuge­spitzt – kom­men­tie­ren. „Die Wei­ma­rer Repu­blik lei­det von Beginn an dar­un­ter, dass Fein­de der Repu­blik ein­fluss­rei­che Posi­tio­nen zurück­ge­win­nen kön­nen“, bilan­zie­ren die bei­den Fil­me­ma­cher selbst gegen Ende die Gescheh­nis­se; wobei nicht uner­wähnt blei­ben darf, dass sie als Spre­cher den Schau­spie­ler Rolf Becker gewin­nen konnten.

Und auch dies ist bedeu­tend: Auf der Web­sei­te von Film­ma­cher Klaus Kuhl (http://kurkuhl.de/de/novrev/filme.html) sind etli­che wei­te­re Doku­men­te zum Film und zu den his­to­ri­schen Ereig­nis­sen kos­ten­los abzu­ru­fen, unter ande­rem aus­führ­li­che Inter­views und Bio­gra­phien mit Popp, sei­nem Par­tei­ge­nos­sen Karl Artelt und wei­te­ren Zeit­zeu­gen, eine aus­führ­li­che Chro­no­lo­gie („Zeit­leis­te“), ein vir­tu­el­ler Stadt­rund­gang sowie ein digi­ta­les „Begleit­heft“ unter ande­rem mit dem voll­stän­di­gen Text des Films, Quel­len­an­ga­ben sowie „Hin­wei­sen für Lehr­kräf­te“, die die­sen Film im Unter­richt ver­wen­den möch­ten, mit Vor­schlä­gen für Auf­ga­ben­stel­lun­gen. Unklar ist momen­tan – wegen eines Aus­lands­auf­ent­halts von Klaus Kuhl „hak­te“ der redak­tio­nel­le Kon­takt etwas –, ab wann und wo genau die DVD zu wel­chem Preis zu haben sein wird; Inter­es­sen­ten wer­den daher an die­ser Stel­le auf sei­ne – sowie unse­re – Web­sei­te verwiesen.

Kiel 1918“

Das Buch des His­to­ri­kers und Publi­zis­ten Mar­tin Rack­witz ist eben­falls als eine „Son­der­ver­öf­fent­li­chung“ der Gesell­schaft für Kie­ler Stadt­ge­schich­te e. V. erschie­nen. Rack­witz hat im bes­ten Sin­ne die­ses Wor­tes ein Geschichts­le­se­buch vor­ge­legt, das flüs­sig und span­nend geschrie­ben ist und zugleich die his­to­ri­schen Abläu­fe infor­ma­tiv und ver­ständ­lich darstellt.

In einem Rück­blick auf „Deutsch­land im Herbst 1918“ schil­dert er zunächst die Situa­ti­on im Welt­krieg, des­sen bevor­ste­hen­des Ende die einen – Kai­ser und Mili­tärs – beharr­lich leug­nen, wäh­rend die ande­ren – aus­ge­laug­te Sol­da­ten und hun­gern­de Bevöl­ke­rung – es her­bei­seh­nen. Nach einem kur­zen Exkurs über die Oktober-Meuterei in Wil­helms­ha­ven por­trä­tiert er eini­ge der maß­geb­li­chen Kie­ler Akteu­re – Popp, Artelt und diver­se Mili­tärs – und beschreibt knapp sei­ne eige­ne Quellenlage.

Im Haupt­teil sei­nes Buches erzählt er anschlie­ßend eine Chro­no­lo­gie der Kie­ler Ereig­nis­se vom Novem­ber 1918. In einer Zwi­schen­bi­lanz kommt er zu dem Schluss: „Vor dem Hin­ter­grund, dass von den Revo­lu­tio­nä­ren in Kiel ver­gleichs­wei­se wenig Gewalt aus­ging, fällt die von der Reichs­re­gie­rung Ebert/Scheidemann/Noske spä­ter tole­rier­te exzes­si­ve Gewalt­an­wen­dung gegen revo­lu­tio­nä­re Arbei­ter und Sol­da­ten umso schwe­rer ins Gewicht – mit dem Matrosen- und Arbei­ter­auf­stand in Kiel und der Novem­ber­re­vo­lu­ti­on lässt sie sich jeden­falls nicht begrün­den oder gar rechtfertigen.“

In der zwei­ten Hälf­te sei­nes Buches unter­sucht Rack­witz – der übri­gens an der zuvor vor­ge­stell­ten DVD punk­tu­ell mit­ge­ar­bei­tet hat – ein­zel­ne Aspek­te wie etwa die Ent­wick­lung in Ber­lin, die Rol­le Gus­tav Noskes und führt die Leser wei­ter bis zum Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920, aller­dings immer fokus­siert auf die jewei­li­gen Ver­hält­nis­se in Kiel. Vor sei­ner Schluss­be­trach­tung schließ­lich (sie­he Eingangs-Zitate) kri­ti­siert er sach­lich, aber durch­aus spitz, wie sich Kiel – die Stadt und die Poli­tik – lan­ge schwer getan haben, mit dem his­to­ri­schen Erbe des Matrosen- und Arbei­ter­auf­stands umzugehen.

Z – Zeit­schrift Mar­xis­ti­sche Erneue­rung 29/115“

Nie­man­den wird es erstau­nen, dass die­se Publi­ka­ti­on ver­gleichs­wei­se radi­ka­le­re Töne anschlägt; die Quar­tals­zeit­schrift macht halt kei­nen Hehl dar­aus, par­tei­isch zu sein – war­um auch.

Im offi­zi­el­len Geden­ken“, so das Edi­to­ri­al, wer­de die Novem­ber­re­vo­lu­ti­on „als Geburts­stun­de der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie gefei­ert. Dass die Durch­set­zung ele­men­ta­rer demo­kra­ti­scher Rech­te im bür­ger­li­chen Deutsch­land einer bewaff­ne­ten Mas­sen­re­vo­lu­ti­on bedurf­te, wird dabei eben­so unter den Tep­pich gekehrt wie der Umstand, dass der von der herr­schen­den Klas­se ent­fes­sel­te Ter­ror von rechts gegen die Revo­lu­ti­on nur andert­halb Jahr­zehn­te spä­ter auch die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie liquidierte“.

In einem hal­ben Dut­zend Bei­trä­ge ver­schie­de­ner AutorIn­nen wer­den Ursa­chen, Ver­lauf und – aus eben par­tei­ischer Sicht – Feh­ler der Ereig­nis­se vom Novem­ber 1918 ana­ly­siert und kom­men­tiert. Das ist weit­aus tro­cke­ner und sprö­der zu lesen als ande­re hier vor­ge­stell­te Wer­ke, aber die Mühe lohnt sich unbe­dingt, wenn man die Gescheh­nis­se begrei­fen (und viel­leicht sogar aus ihnen ler­nen) will.

1918: Die Stun­de der Matrosen“

Dies ist zwei­fel­los das größ­te, umfang­reichs­te und auch bun­tes­te Buch die­ser Palet­te. Eigent­lich ist es „nur“ der Kata­log zu einer seit Mai die­ses Jah­res und noch bis März 2019 lau­fen­den Aus­stel­lung im Kie­ler Schiff­fahrts­mu­se­um. Aber die Her­aus­ge­be­rin­nen, die His­to­ri­ke­rin Son­ja Kinz­ler und die Muse­ums­chefin Doris Till­mann, haben weit mehr als eine Doku­men­ta­ti­on geschaffen.

Sie selbst und 29 wei­te­re AutorIn­nen – dar­un­ter übri­gens auch Mar­tin Rack­witz – füh­ren die Leser (und poten­zi­el­len Aus­stel­lungs­be­su­cher…) zu Schau­plät­zen von Revo­lu­ti­on und Gegen­re­vo­lu­ti­on, schil­dern die Chro­no­lo­gie in einer beein­dru­ckend viel­fäl­tig illus­trier­ten Wei­se – Fotos, Pla­ka­te, Auf­ru­fe, Kunst­ob­jek­te –, räu­men auf mit Legen­den und ver­an­schau­li­chen die Zusam­men­hän­ge, wie Kiel als Kriegs­ha­fen und Waf­fen­schmie­de zum explo­si­ven Kul­mi­na­ti­ons­punkt der Unzu­frie­den­heit einer aus­ge­blu­te­ten Mari­ne wurde.

Ange­pass­ter als die vor­ste­hend beschrie­be­ne „Z“, aber durch­aus empa­thisch bilan­ziert Till­mann abschlie­ßend: „Heu­te gilt der Kie­ler Auf­stand als Mei­len­stein auf dem Weg zur Demo­kra­tie, und die Matro­sen sind ihre Botschafter.“

Auf­stand der Matro­sen“

Dirk Lie­se­mer hat Poli­tik und Phi­lo­so­phie stu­diert, Ham­burgs Henri-Nannen-Journalistenschule besucht und arbei­tet als frei­be­ruf­li­cher Autor, unter ande­rem für die Zeit­schrift „mare“, deren Ver­lag die­ses Buch edi­tiert hat. Lie­se­mers Schrei­be ist gut les­bar, man merkt den Pro­fi. Aller­dings hat er sich hier im Bemü­hen um locke­ren Feature-Stil ver­ga­lop­piert und trak­tiert die Leser mit zu vie­len Nebensächlichkeiten.

Bei allem Ver­ständ­nis für locke­ren Stil: Wenn ein Sach­buch zu einem erns­ten his­to­ri­schen The­ma, das als „Tage­buch“ prä­sen­tiert wird, nicht nur auf Matro­sen, Arbei­ter, Poli­ti­ker, Mili­tärs und Kai­ser schaut, son­dern ande­re Akteu­re und Beob­ach­ter – wie etwa Rin­gel­natz oder Ril­ke – ein­be­zieht, dann ist das in Ord­nung. Es könn­te auch gut genannt wer­den, weil vie­le anders­wo feh­len­de Facet­ten der Ereig­nis­se ein­be­zo­gen wer­den, wenn der Autor nicht immer wie­der mit illus­trier­ten­rei­fem Chi­chi ner­ven wür­de: Wel­che Rol­le spielt es, dass Hapag-Chef Albert Bal­lin in Ham­burg mala­chit­grü­ne Tablet­ten nimmt, dass Gym­na­si­al­leh­rer Josef Hof­mil­ler durch Mün­chen strei­fen kann, weil an der Schu­le grippe­frei ist? Und, noch kras­ser, dass Kai­ser Wil­helm II. im Exil in Spa ein paar Bäu­me gefällt hat?

Zuge­ge­ben: Das Buch ist flüs­sig zu lesen – aber war­um soll­te man das tun, wenn es (sie­he oben) viel bes­se­re gibt? Bestimmt nicht wegen eines Vor­worts von Nor­bert Lam­mert: Einen CDU-Politiker die „ori­gi­nel­le Aus­wahl“ eines Revolutions-Tagebuchs loben zu las­sen, dis­kre­di­tiert dies allenfalls.

Kie­ler Morgenrot“

Um direkt anzu­knüp­fen: Wer Unter­hal­tung sucht, ist mit Kay Jacobs‘ his­to­ri­schem Kri­mi weit­aus bes­ser bedient. Der jüdi­sche Kri­mi­nal­kom­mis­sar Josef Rosen­baum – immer wie­der kon­fron­tiert mit offe­nen Res­sen­ti­ments sei­tens reak­tio­nä­rer Anti­se­mi­ten vor­wie­gend im Mili­tär­ap­pa­rat – hat die Ermor­dung drei­er Werft­ar­bei­ter auf­zu­klä­ren; und dies mit­ten in den Wir­ren des Matrosenaufstands.

Fami­li­en­dra­ma? Ban­den­krieg unter Schmugg­lern? Trotz intri­gan­ter Blo­cka­den sei­tens des Mili­tärs und der Poli­ti­schen Poli­zei ermit­telt Rosen­baum gegen alle Wider­stän­de in ganz ande­re Rich­tung. Jacobs bet­tet die Roman­hand­lung ein in das Revo­lu­ti­ons­ge­sche­hen, lässt die fik­ti­ven Per­so­nen sei­nes Kri­mis inter­agie­ren mit tat­säch­lich his­to­ri­schen Per­so­nen wie Lothar Popp, Karl Artelt oder dem Kie­ler Mili­tär­gou­ver­neur Admi­ral Wil­helm Souchon.

Die der­art ver­wo­be­ne Erzäh­lung wird so zu einer eben­so span­nen­den wie zugleich lehr­rei­chen Lek­tü­re, die ihre Sym­pa­thie für die Revo­lu­tio­nä­re nie verhehlt.

Burk­hard Ilschner

Nach­trag aus: WATERKANT, Num­mer 132; Heft 4 / 2018

Novem­ber 1918

Eigent­lich ist die­se Rezen­si­on hier fehl am Plat­ze: Sie hät­te im vori­gen Heft die­ser Zeit­schrift ste­hen sol­len, in der Bücher­schau anläss­lich des 100. Jah­res­tags des Kie­ler Matro­sen­auf­stands 1918 – eine redak­tio­nel­le Pan­ne, die um so bedau­er­li­cher ist, als gera­de die­ses Buch eines der wich­tigs­ten aktu­el­len Wer­ke zum The­ma ist. Klaus Gie­ting­er ist Sozi­al­wis­sen­schaft­ler, Regis­seur und Dreh­buch­au­tor: Er zeich­net nicht nur für diver­se ARD-„Tatorte“ ver­ant­wort­lich oder für mehr als 40 Fol­gen der Kinder-Bildungssendung „Löwen­zahn“, für poli­ti­sche Roma­ne und Hei­mat­fil­me – er hat auch seit vie­len Jah­ren zur Geschich­te und den Fol­gen der Novem­ber­re­vo­lu­ti­on geforscht und publiziert.

In sei­nem aktu­el­len Buch beschreibt Gie­ting­er die Ursa­chen und den Ver­lauf der Revo­lu­ti­on im Novem­ber 2018 zwar inten­siv, aber rela­tiv kurz. Aus­führ­li­cher wid­met er sich den fol­gen­den Ereig­nis­sen, fragt, wie die Intri­g­anz der Mehr­heits­so­zi­al­de­mo­kra­ten und ihr Zusam­men­wir­ken mit den alten Kräf­ten der Reak­ti­on den Weg in den Hitler-Faschismus ebnen konn­te. Um aus dem Vor­wort, das Karl-Heinz Roth dem Buch wid­me­te, zu zitie­ren, kon­zen­triert sich Gie­ting­er dabei auf ein spe­zi­fisch deut­sches „struk­tu­rel­les Merk­mal“, näm­lich „das unein­ge­schränk­te Pak­tie­ren der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie mit der mili­tä­ri­schen Kon­ter­re­vo­lu­ti­on und ihre gemein­sa­me Front­stel­lung gegen die Unterklassen“.

Gie­ting­er hat die­sen Aspekt nicht nur in frü­he­ren Wer­ken bereits zuge­spitzt, etwa in einem Roman über die Ermor­dung Rosa Luxem­burgs oder in der beglei­tend ver­öf­fent­lich­ten Stu­die, wonach Sozi­al­de­mo­krat Gus­tav Noske ihre und Lieb­knechts Ermor­dung gebil­ligt haben soll. Er rich­tet in die­sem Buch sein Augen­merk aber auch auf die Fra­ge, ob und wie die Novem­ber­re­vo­lu­ti­on von 1918 noch ein­hun­dert Jah­re spä­ter Wir­kung zeigt: Er skiz­ziert unter ande­rem, wie das Sys­tem „Hartz IV“ nicht nur als „Ver­elen­dungs­plan für Arbeits­lo­se“ funk­tio­niert, son­dern auch einen Bei­trag leis­tet zur Dezi­mie­rung der Mit­tel­schicht. Er beschreibt, wie dies die Rechts-Entwicklung beför­dert, „bei der die schwei­gen­de Mehr­heit … salon­fa­schis­ti­sche Par­tei­en wählt, wäh­rend der Staats­ap­pa­rat sich wei­ter militarisiert“.

Gie­ting­er will die Novem­ber­re­vo­lu­ti­on dem Ver­ges­sen ent­rei­ßen: „Sie hat es verdient“.

Peer Jans­sen