Sheldrake, Merlin: Verwobenes Leben – Wie Pilze unsere Welt formen
und unsere Zukunft beeinflussen; Berlin, 2020; Ullstein Buchverlage;
Hardcover, 443 Seiten; ISBN 978-3-5502-0110-3; Preis 29,00 Euro.
Es gibt sie in den Sedimenten am Boden der Tiefsee, an der Oberfläche von Wüsten, in den gefrorenen Tälern der Antarktis und ebenso in unseren Verdauungsorganen und Körperöffnungen: Merlin Sheldrake, ein 33 Jahre alter englischer Wissenschaftler, hat sich mit Leib und Seele der Welt der Pilze und der Pilze der Welt verschrieben – und erklärt uns, warum. „Mit Leib und Seele“ ist wörtlich zu verstehen, denn Sheldrake beschreibt in seinem fulminanten Wälzer nicht nur Beobachtungen und Sektionen in Laboren oder in Landschaften verschiedener Länder, sondern auch in nicht immer risikolosen Selbstversuchen. Mehr Engagement, so könnte man sagen, geht kaum.
Dieses Buch – ein 340-Seiten-Werk mit umfangreichen Anmerkungen plus Register und Bibliographie – liest sich trotz seines Umfangs und trotz Komplexität seines Themas wie ein Roman: Neugier weckend zwar und informativ, aber oft auch unterhaltsam, gelegentlich auch spannend, ein Krimi ohne Blutvergießen.
Lange Zeit hatten Pilze als Teil der Fauna gegolten, inzwischen sind sie längst neben Tieren und Pflanzen als eigenständige Lebensform anerkannt – aber weitgehend unbekannt: Mehr als 90 Prozent aller Pilzarten seien noch nicht dokumentiert, schreibt Sheldrake zur Eröffnung seiner Erzähl- und Erklärreise in eine fremde, aber faszinierende Welt. Pilze sind überall, sie sind uralt, sie sind mal mikroskopisch klein, mal Quadratkilometer groß. Sie sind Wunderwerke der Natur, haben mehrere globale Evolutions-Katastrophen überstanden – und sie sind Alleskönner. Manche sind unverzichtbar in der Medizin, andere haben sich als betörend und berauschend einen Namen gemacht, wieder andere erweisen sich als fähige Labore mit überraschenden Qualifikationen: Sheldrake stellt Arten vor, die Holz und Gestein zersetzen können, andere vermögen Polyurethan und andere Kunststoffe oder Rohöl abzubauen oder TNT unschädlich zu machen. Und um den Blick in die Wunderwelt abzurunden: Es gibt Pilze, die nachhaltiges Leben begünstigen, indem sie Baumaterialien und Werkstoffe liefern, die die klimarelevante Produktion von Beton oder Leder ersetzen können.
Einfach unverzichtbar
Pilze sind für uns und diese Welt unverzichtbar lebensnotwendig. Es gibt, so lehrt uns Sheldrake, weder eine Pflanze in der Natur, auf deren Blätter nicht Pilze siedelten, noch Boden egal welcher Art – Gras, Erde, Fels… –, der nicht von Pilzen bewohnt sei; von der Haut und den Innereien sowohl des Menschen als auch der Tiere gar nicht zu reden. Pilze sind in der Luft und im Wasser, werden eingeatmet oder tragen bei zur Gestaltung von Klima und Wetter.
Eloquent, gut lesbar und verständlich unterrichtet das Buch über Hyphen und Myzelien – so bezeichnet die Botanik die fädenartige Grundstruktur der Pilze – und vor allem über Mykorrhizen, die Lebensgemeinschaften von Myzelien und Pflanzenwurzeln: Höchst komplexe Netzwerke, deren Fähigkeiten diejenigen heutiger Digital-Netze (und vor allem deren Sozialkompetenz…) weit in den Schatten stellen. Diese Symbiosen tauschen nicht nur Nährstoffe und Informationen aus, ohne dass bislang schlüssig erklärt werden könnte, wie das exakt funktioniert – sie können derartigen Austausch auch regulieren in Abhängigkeit von (oder Reaktion auf) externe Einflüsse der Natur, des Klimas oder sogar des Menschen: „Wood wide web“ nennt Sheldrake diese Wunderwelt, in der Pilze sich in Labyrinthen orientieren, Bäche und Wege überqueren oder elektrische Wellen zur Signalübertragung nutzen können.
Pilze sind Überlebenskünstler, können – wie eingangs skizziert – in hydrothermalen Tiefseeschloten oder kilometerweit unter dem Antarktiseis überleben. Ohne Pilze hätten Algen nie aufs Land gefunden, um dortiges Leben zu initiieren. Mykorrhizen können helfen, die Veränderungen des Weltklimas mindestens zu erkennen, vielleicht auch zu beeinflussen; manche nennen sie ehrfurchtsvoll „Ökosystem-Ingenieure“, obwohl sie weniger Wesen sind als vielmehr dynamische Prozesse darstellen. Ein Satz aus dem Schlusskapitel des Sheldrake-Buches sagt eigentlich alles: „Pilze schaffen Welten; und sie bauen Welten ab.“
Peer Janssen