Munitionsaltlasten auf dem Meeresgrund

Die Hinterlassenschaft zweier Kriege
bleibt noch lange ein Problem

Von Burk­hard Ilschner

Es begann vor mehr als 100 und eska­lier­te vor rund 75 Jah­ren. Was einst – fälsch­lich – als ver­meint­li­che Lösung geprie­sen wur­de, wird seit gut einem Vier­tel­jahr­hun­dert immer­hin als Pro­blem benannt: Allein auf dem Mee­res­grund der deut­schen Nord- und Ost­see lagern geschätzt mehr als 1,6 Mil­lio­nen Ton­nen Bom­ben, Minen und Gra­na­ten. Man­che ent­hal­ten che­mi­sche Kampf­stof­fe, zusam­men meh­re­re tau­send Ton­nen. Was dar­aus wird, ist bis heu­te weit­ge­hend unge­klärt, das Pro­blem dürf­te noch Gene­ra­tio­nen beschäftigen.

rin un rut, Teil 1: Rie­si­ge Men­gen Gift­gas­mu­ni­ti­on war­ten auf ihre Ent­sor­gung im Meer.
Foto: Archiv Dr. Nehring

Die Rede ist von Muni­ti­ons­alt­las­ten zwei­er Welt­krie­ge, die lang­sam vor sich hin rot­ten und ekla­tan­te Gefahr bedeu­ten für Men­schen auf und an den Mee­ren, für Fische­rei, Sport­schiff­fahrt und Tou­ris­mus und vor allem für die Mee­res­um­welt (sie­he Kas­ten). Zwar wird seit Jahr­zehn­ten und immer lau­ter wirk­sa­mes Entsorgungs-Handeln gefor­dert. Tat­säch­lich wird das Pro­blem poli­tisch und admi­nis­tra­tiv aber bis heu­te ver­schleppt, ver­harm­lost oder geleug­net. Erst in die­sem Jahr hat die Bun­des­re­gie­rung die Ent­wick­lung von Lösungs­kon­zep­ten beauf­tragt, die 2024/25 zu ers­ten Ber­gungs­ver­su­chen füh­ren sol­len – Ende offen.

Es ist unstrit­tig, dass die­ses mari­ne Alt­las­ten­pro­blem ein glo­ba­les ist, die größ­ten Antei­le der in nord­eu­ro­päi­schen Gewäs­sern lagern­den Spreng- und Gift­stof­fe aber aus deut­scher Pro­duk­ti­on stam­men: Nach dem Ers­ten Welt­krieg wur­de vor­wie­gend auf Ver­an­las­sung der Alli­ier­ten Muni­ti­on des besieg­ten deut­schen Reichs von der Bis­ka­ya über die Nord­see bis Got­land im Meer ver­senkt, häu­fig durch „ein­fa­ches“ Über­bord­kip­pen, oft aber auch durch Ver­sen­kung gan­zer Schif­fe mit gif­ti­ger oder explo­si­ver Ladung. Übli­che Kampf­mit­tel­ver­nich­tung (Spren­gung oder Ver­bren­nung) galt ange­sichts der zu bewäl­ti­gen­den Men­gen als zu zeit- und kos­ten­auf­wän­dig und zu ris­kant für das betei­lig­te Per­so­nal. Ver­sen­kung auf See hin­ge­gen schien effi­zi­ent und eben unproblematisch.

In den 1940er Jah­ren war es zunächst die deut­sche Wehr­macht, die kurz vor Ende des Zwei­ten Welt­kriegs Kampf­stoff­mu­ni­ti­on in der Ost­see ver­senk­te, um sie dem Zugriff geg­ne­ri­scher Streit­kräf­te zu ent­zie­hen. Nach der Kapi­tu­la­ti­on Nazi-Deutschlands indes prak­ti­zier­ten die Sie­ger­mäch­te das­sel­be wie 30 Jah­re zuvor. Und der eige­nen Bequem­lich­keit hal­ber pack­ten die Alli­ier­ten ihre eige­nen, nicht mehr benö­tig­ten Muni­ti­ons­men­gen gleich dazu, ver­klapp­ten sie nicht nur in Nord- und Ost­see, son­dern teil­wei­se auch in eige­nen Küs­ten­ge­wäs­sern. Ins­ge­samt wird ver­mu­tet, dass allein nach dem Zwei­ten Welt­krieg meh­re­re Mil­lio­nen Ton­nen Muni­ti­ons­alt­las­ten und Gift­kampf­stof­fe in Euro­pas Mee­ren ver­senkt wur­den. Aber dabei blieb es nicht, auch sei­tens BRD und DDR wur­den sol­che Ver­sen­kun­gen bis in die 1960er Jah­re vorgenommen.

Rück­sicht auf See­fah­rer oder Küs­ten­be­woh­ner kamen in den Jahr­zehn­ten nach Kriegs­en­de im Den­ken der Ver­ant­wort­li­chen sel­ten vor – und Mee­res­um­welt­schutz spiel­te bekannt­lich auch kei­ne Rol­le, schließ­lich wur­den in und auf den Mee­ren all­ge­mein bis weit in die 1980er Müll, Abfäl­le und Abwäs­ser ver­klappt, ein­ge­lei­tet oder ver­brannt. Für weni­ge Jah­re gab es in den 1950ern geziel­te Ver­su­che, ver­senk­te Kampf­mit­tel wie­der zu ber­gen, um ent­hal­te­ne Roh­stof­fe zurück­zu­ge­win­nen. Zwar wur­den so zunächst meh­re­re hun­dert­tau­send Ton­nen wie­der gebor­gen, anschlie­ßend aber teil­wei­se rück­ver­senkt. Und gele­gent­lich fla­cker­ten Debat­ten über die ver­senk­ten Alt­las­ten auf, wenn Fischer Tei­le davon in ihren Net­zen fan­den oder Unfäl­le gemel­det wur­den. Aller­dings führ­te all dies nie zu nen­nens­wer­ten poli­ti­schen oder admi­nis­tra­ti­ven Akti­vi­tä­ten, die geziel­tes Ber­gen und Ent­sor­gen der Unmen­gen ver­senk­ter Kampf- und Gift­stof­fe beab­sich­tigt hätten.

Fische­rei­er­satz nach dem Krieg: Muni­ti­ons­fi­schen in der Nord­see.
Foto: Archiv Dr. Nehring

Die­se prak­ti­zier­te und pro­pa­gier­te Sorg­lo­sig­keit hat­te eine wesent­li­che Ursa­che: Die wenigs­ten Ver­sen­kun­gen waren sei­ner­zeit ordent­lich doku­men­tiert wor­den – aus dem Auge, aus dem Sinn – oder Schät­zun­gen kom­pli­zie­ren sich durch Aktio­nen wie die eben beschrie­be­ne „Wert­stoff­ge­win­nung“. Fol­ge die­ser fast schon orga­ni­siert zu nen­nen­den Nach­läs­sig­keit sind bis heu­te lücken­haf­te oder feh­len­de Anga­ben über voll­zo­ge­ne Muni­ti­ons­ver­sen­kun­gen: Die meis­ten Daten über Umfang, Ort, Art und Men­ge basie­ren mehr auf Schät­zung und Hören­sa­gen als auf kon­kre­ten und beleg­ba­ren Fakten.

Zwar gab es etwa ab Mit­te der 1980er Jah­re (nicht nur) in Deutsch­land ers­te Debat­ten über mög­li­che Gefähr­dun­gen von Mensch und Umwelt durch ver­senk­te Kampf­mit­tel, Aus­lö­ser waren vor allem die Scha­dens­fäl­le in der Fische­rei. Unfäl­le in Tou­ris­mus­ge­bie­ten, etwa durch am Strand ange­spül­te Munitions- oder Kampf­stoff­res­te, wur­den hin­ge­gen ger­ne klein­ge­re­det oder gar ver­schwie­gen, man woll­te ja poten­ti­el­le Gäs­te nicht verschrecken.

Ab den 1990er Jah­ren wur­de häu­fig inten­si­ver recher­chiert, es gab Anfra­gen und Debat­ten im Bun­des­tag, es gab behörd­li­che Unter­su­chun­gen etwa über „Che­mi­sche Kampf­stoff­mu­ni­ti­on in der süd­li­chen und west­li­chen Ost­see“ oder über die Sicher­heit der mari­ti­men Trans­port­we­ge in der deut­schen Aus­schließ­li­chen Wirt­schafts­zo­ne (AWZ). Es gab ver­ein­zel­te Bestre­bun­gen, die Geschich­te der Muni­ti­ons­ver­sen­kun­gen in ihren Dimen­sio­nen und erwart­ba­ren Fol­gen auf­zu­ar­bei­ten – nur Pla­nun­gen oder gar Umset­zung hand­fes­ter Maß­nah­men zur Ber­gung und Ent­sor­gung gab es wei­ter­hin nicht. Viel­mehr beschwich­tig­ten die Behör­den damals, dass vor der deut­schen Nord­see­küs­te Muni­ti­ons­alt­las­ten nur in einer Grö­ßen­ord­nung von 10.000 Ton­nen lagern wür­den und es nur eine Hand­voll von Unfäl­len mit die­sem explo­si­ven Erbe gäbe. Es ist dem Koblen­zer Mee­res­bio­lo­gen und Umwelt­gut­ach­ter Ste­fan Neh­ring zu ver­dan­ken, dass das wah­re Aus­maß der Mil­lio­nen Ton­nen und mehr als 1000 Opfer ver­senk­ter Muni­ti­on öffent­lich bekannt wur­de. Ab 2005 ver­öf­fent­lich­te er kon­ti­nu­ier­lich (und das meis­te davon exklu­siv) in unse­rer bis 2019 pro­du­zier­ten Print­aus­ga­be von Water­kant Hin­ter­grün­de und eige­ne Recherche-Ergebnisse – bri­san­te Akten­fun­de über Ver­sen­kungs­pro­to­kol­le, detail­lier­te Unfall­be­rich­te und -sta­tis­ti­ken, aktu­el­le Bewer­tun­gen zur begin­nen­den Ent­sor­gungs­de­bat­te und vie­les ande­re mehr.

Es waren zunächst vor allem die eins­ti­ge Bre­mer Mee­res­schutz­or­ga­ni­sa­ti­on Akti­ons­kon­fe­renz Nord­see (AKN) und par­al­lel auch der Natur­schutz­bund Deutsch­land (NABU), die auf Grund­la­ge von Neh­rings Recher­chen auf Kon­gres­sen und in Publi­ka­tio­nen drin­gen­des Han­deln anmahn­ten. Durch den stei­gen­den Druck der beglei­ten­den Medi­en­be­rich­te und Anfra­gen in den Par­la­men­ten sah sich die 1997 gegrün­de­te Arbeits­ge­mein­schaft Bund/Länder-Messprogramm für die Mee­res­um­welt von Nord- und Ost­see (1) genö­tigt, sich ab 2008 im so genann­ten Exper­ten­kreis Muni­ti­on im Meer orga­ni­siert mit der mari­nen Altlasten-Problematik zu beschäftigen.

Aller­dings fan­den sich in des­sen 2011 ver­öf­fent­lich­tem Ergeb­nis­be­richt (2), der alle durch Neh­ring recher­chier­ten Daten bestä­tig­te, eher über­ra­schen­de Aus­sa­gen, etwa unter dem Titel „Gesamt­be­wer­tung“ fol­gen­der Satz: „Der­zeit ist nicht erkenn­bar, dass eine groß­räu­mi­ge Gefähr­dung der mari­nen Umwelt über den loka­len Bereich der muni­ti­ons­be­las­te­ten Flä­chen hin­aus vor­han­den oder zukünf­tig zu erwar­ten ist. Eine Gefähr­dung besteht jedoch punk­tu­ell für Per­so­nen­grup­pen, die im mari­nen Bereich der Nord- und Ost­see mit Grund­be­rüh­rung tätig sind.“

rin un rut, Teil 2: In einem Muni­ti­ons­la­ger war­ten gebor­ge­ne alte
Bom­ben und Gra­na­ten auf ihre Ver­nich­tung.
Foto: Archiv Dr. Nehring

Zu die­sem Zeit­punkt hat­te es über Jah­re bereits neben diver­sen Unfäl­len in der Berufs- und Frei­zeit­fi­sche­rei auch Ver­let­zun­gen etwa an tou­ris­tisch genutz­ten Strän­den durch ange­spül­te Kampf­stoff­res­te gege­ben. Und auch die­ser Satz aus der­sel­ben Publi­ka­ti­on kon­ster­nier­te damals kri­ti­sche Exper­ten: „Eine Gefähr­dung des Ver­brau­chers durch mög­li­cher­wei­se kon­ta­mi­nier­te mari­ne Pro­duk­te, ins­be­son­de­re Nah­rungs­mit­tel, ist nach der­zei­ti­gem Kennt­nis­stand als äußerst unwahr­schein­lich ein­zu­schät­zen. Es sind kei­ne in die­se Rich­tung deu­ten­den kon­kre­ten Bele­ge bekannt.“ Tat­säch­lich gab es zu die­ser Zeit bereits Ver­öf­fent­li­chun­gen, die erheb­li­che Zwei­fel an die­ser Sicht­wei­se äußer­ten und teil­wei­se fun­diert begrün­de­ten. So gab es nicht nur Erkennt­nis­se über Schad­stoffspu­ren aus Kampf­stoff­res­ten in der mari­nen Nah­rungs­ket­te, son­dern auch Pro­gno­sen, dass die­ses Pro­blem auf­grund von Ver­rot­tungs­pro­zes­sen in den nächs­ten Jahr­zehn­ten eska­lie­ren dürfte.

Pikant war und ist es vor allem, dass die Autoren ihren Bericht expli­zit „als leben­di­ges und wach­sen­des Doku­ment“ bezeich­ne­ten, „regel­mä­ßi­ge Aktua­li­sie­rung und fort­lau­fen­de Erwei­te­rung sind vor­ge­se­hen“. Es folg­ten näm­lich sie­ben jähr­li­che Fortschritts-Berichte, aller­dings sind (so der Kie­ler Pro­fes­sor Uwe Jenisch 2021 im „mari­ne­fo­rum“) die zuge­hö­ri­gen Kar­ten dabei „lei­der“ nie aktua­li­siert wor­den – unter ande­rem bei Neh­ring hät­ten die Exper­ten in all die­sen Jah­ren genü­gend Mate­ri­al dazu fin­den kön­nen. Ende 2019 beschloss die 93. Umwelt­mi­nis­ter­kon­fe­renz des Bun­des und der Län­der eine fina­le Aktua­li­sie­rung des Berichts. Der erschien dann als gan­ze zwei Sei­ten umfas­sen­des Doku­ment im März 2021 – kon­sta­tier­te inzwi­schen aber immer­hin „drin­gen­den Hand­lungs­be­darf“ (3).

Orga­ni­sier­tes poli­ti­sches Versagen

Um nicht miss­ver­stan­den zu wer­den: In Bundes- und Lan­des­par­la­men­ten, in Admi­nis­tra­tio­nen, Behör­den oder Insti­tu­ten gab und gibt es vie­le enga­gier­te, um Auf­klä­rung bemüh­te Kräf­te – Ein­zel­per­so­nen oder Klein­grup­pen wie zum Bei­spiel For­schungs­teams; nur blieb ihnen eine politisch-administrative Gesamt­ko­or­di­na­ti­on ver­sagt. „Muni­ti­on im Meer“ war über lan­ge Zeit – schaut man durch eine Lupe öffent­li­chen Inter­es­ses – vor allem eine Art ver­steck­tes Schubladen-Thema. Punk­tu­el­les Auf­se­hen gab es etwa, wenn bri­san­te Alt­las­ten in oder am Ran­de einer wich­ti­gen Schiff­fahrts­stra­ße ver­mu­tet, gesucht, ent­deckt und oft zügig geräumt oder gesprengt wur­den (nicht immer im Ein­klang mit gel­ten­dem Natur­schutz­recht). Auch kon­kre­te wirt­schaft­li­che Moti­ve führ­ten zu Aktio­nis­mus: Für neue Wind­parks etwa, für die Tras­se der NordStream-Pipeline, für den anhal­tend umstrit­te­nen Tun­nel­bau im Feh­marn­belt wur­den vor Ort ent­deck­te Kriegs­alt­las­ten geräumt; auf unzäh­li­gen Kon­fe­ren­zen wur­den teils par­al­lel, teils mit sol­chen Vor­ha­ben zusam­men­hän­gend Daten zusam­men­ge­tra­gen und aus­ge­tauscht. Aber nie­mals gab es den ent­schei­den­den „Kick“ von ver­ant­wort­li­cher poli­ti­scher Sei­te, den Weg zu ebnen für eine plan­mä­ßi­ge und groß­flä­chi­ge Erfas­sung samt Erar­bei­tung eines Gesamt­kon­zepts zur zügig sich anschlie­ßen­den Besei­ti­gung der bri­san­ten Hinterlassenschaften.

Es han­delt sich im Grun­de genom­men um orga­ni­sier­tes poli­ti­sches Ver­sa­gen. Ob vor­sätz­lich oder fahr­läs­sig, sei dahin­ge­stellt – es ist die kon­se­quen­te Fort­set­zung jener Nach­läs­sig­keit, mit der (sie­he oben) vor Jahr­zehn­ten ver­klappt und ver­senkt wor­den ist. Immer wie­der gab und gibt es Berich­te und Ent­hül­lun­gen über „Gefahr aus der Tie­fe“, „Gift­gas­klum­pen an den Strän­den“, „Bomben-Strände“, „Gift­gas­gra­na­ten im Schlepp­netz“, „Senf­gas­op­fer im Hos­pi­tal“, „Ticken­de Zeit­bom­ben im Meer“ oder „Gif­ti­ges Arsen in Schol­len“ – eini­ge weni­ge Bei­spie­le aus Schlag­zei­len meh­re­rer Jahr­zehn­te. Nur hat­te das eben lan­ge Zeit kei­ne poli­ti­schen oder admi­nis­tra­ti­ven prak­ti­schen Folgen.

Erst seit Kur­zem scheint sich das zumin­dest ansatz­wei­se zu ändern. Es bleibt aber abzu­war­ten, mit wel­cher Kon­se­quenz und Aus­dau­er das auch zu Erfol­gen führt. In ihrem Koali­ti­ons­ver­trag hat die amtie­ren­de Ber­li­ner Koali­ti­on im Novem­ber 2021 knapp, aber mar­kant ver­merkt: „Für die Ber­gung und Ver­nich­tung von Muni­ti­ons­alt­las­ten in der Nord- und Ost­see wird ein Sofort­pro­gramm auf­ge­legt sowie ein Bund-Länderfonds für die mittel- und lang­fris­ti­ge Ber­gung ein­ge­rich­tet und soli­de finan­ziert.“ Ent­schie­den klin­gen­de Wor­te, die aber mög­li­cher­wei­se nicht so gemeint waren. Ein hal­bes Jahr spä­ter, im Mai 2022, kri­ti­sier­te der Wis­sen­schaft­li­che Dienst des Bun­des­ta­ges in einer Kurz­in­for­ma­ti­on: „Bis­lang war die Kar­tie­rung die­ser Muni­ti­ons­alt­las­ten lücken­haft, nur ein Teil der Muni­ti­ons­ver­sen­kungs­ge­bie­te ist bekannt. Infol­ge von Explo­si­ons­vor­fäl­len kom­men immer wie­der wei­te­re hin­zu. Eine detail­lier­te und umfas­sen­de Kar­tie­rung liegt bis­lang nicht vor“ (4).

Zum Spren­gen und Vergiften

I. Kon­ven­tio­nel­le Kampfmittel
Diver­se che­mi­sche Stof­fe wur­den wäh­rend bei­der Welt­krie­ge als kon­ven­tio­nel­le Kampf­mit­tel ent­wi­ckelt, um im Ein­satz durch Deto­na­ti­on oder als Brand­be­schleu­ni­ger Objek­te oder Men­schen zu schä­di­gen. Dane­ben haben die­se Kampf­mit­tel stoff­li­che und toxi­ko­lo­gi­sche Eigen­schaf­ten, die für Mensch und Umwelt gefähr­lich sind, wie die zwei wich­tigs­ten Bei­spie­le von im Meer lagern­der Muni­ti­on zeigen:
2,4,6-Trinitrotoluol (TNT)
Explo­siv­stoff, mit Abstand am häu­figs­ten wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges pro­du­ziert; gif­tig beim Ein­at­men, Ver­schlu­cken und Berüh­rung mit der Haut; Ver­dacht auf kan­ze­ro­ge­ne und muta­ge­ne Wir­kung; gefähr­li­cher Was­ser­schad­stoff; in der Umwelt per­sis­tent mit Gefahr der kumu­la­ti­ven Wirkung.
Phos­phor
Brand­mit­tel und Ätz­stoff, ein­ge­setzt vor allem in Brand­bom­ben; sehr gif­tig beim Ver­schlu­cken, Berüh­rung mit der Haut und beim Ein­at­men; tera­to­ge­ne Wir­kung; unter Was­ser per­sis­tent; kann durch ent­hal­te­ne Bei­mi­schun­gen (Kau­tschuk) auf­schwim­men; ähnelt optisch Bern­stein, zün­det beim Abtrock­nen selbst­tä­tig, ver­brennt mit 1.300 °C.

II. Che­mi­sche Kampfstoffe
Che­mi­sche Kampf­stof­fe stö­ren die phy­sio­lo­gi­schen Funk­tio­nen des mensch­li­chen Orga­nis­mus der­ma­ßen, dass die Kampf­fä­hig­keit von Men­schen beein­träch­tigt oder sogar der Tod her­bei­ge­führt wird. Es sind gas­för­mi­ge, flüs­si­ge oder fes­te Stof­fe, die in Bom­ben und Gra­na­ten oder durch Abbla­sen oder Ver­sprü­hen mit Gas­fla­schen oder Kanis­tern ein­ge­setzt werden.
Die wäh­rend des Zwei­ten Welt­krieges pro­du­zier­ten che­mi­schen Kampf­stof­fe las­sen sich fol­gen­den Wirk­stoff­grup­pen zuordnen:
1. Ner­ven­kampf­stof­fe
Wich­ti­ge Ver­tre­ter: Tabun, Sarin, Soman
Haupt­sym­pto­me: Krämp­fe sowie Läh­mung des Atem­zen­trums (Atem­still­stand).
2. Haut­kampf­stof­fe
Wich­ti­ge Ver­tre­ter: Lost (Senf­gas), Lewisit
Haupt­sym­pto­me: Haut­rö­tun­gen, Bla­sen­bil­dung, nekro­ti­sche Gewe­be­zer­stö­run­gen mit außer­or­dent­lich schlech­ter Hei­lungs­ten­denz, Schä­di­gung aller Orga­ne mit ggf. töd­li­chen Aus­gang, stark kanzerogen.
3. Lun­gen­kampf­stof­fe
Wich­ti­ge Ver­tre­ter: Phos­gen, Diphosgen
Haupt­sym­ptom: toxi­sches Lungenödem.
4. Nasen- und Rachenreizstoffe
Wich­ti­ge Ver­tre­ter: Adam­sit, Clark I, Clark II
Haupt­sym­pto­me: Husten- und Nies­reiz, ver­stärk­te Sekre­ti­on der Nasen­schleim­haut und Spei­chel­drü­sen, Atem­not, Kopf­schmerz und Schmer­zen im Brust­bein­be­reich. In hohen Kon­zen­tra­tio­nen ist Aus­bil­dung eines toxi­schen Lun­gen­ödems möglich.
5. Augen­reiz­stof­fe
Wich­ti­ger Ver­tre­ter: Chloracetophenon
Haupt­sym­pto­me: Bren­nen und Ste­chen der Augen, Trä­nen­fluss, Fremd­kör­per­ge­fühl, Lid­schluss, zeit­wei­li­ge Blind­heit und Bin­de­haut­ent­zün­dun­gen. In hohen Kon­zen­tra­tio­nen sind blei­ben­de Augen­schä­den und Aus­bil­dung eines toxi­schen Lun­gen­ödems möglich.

Damit nicht genug. Im August 2022 wim­mel­te die Ampel-Koalition eine Klei­ne Anfra­ge der Links­frak­ti­on erst ein­mal ab: „Nach Auf­fas­sung der Bun­des­re­gie­rung … besteht in Bezug auf Alt­mu­ni­ti­on im Meer kei­ne all­ge­mei­ne recht­li­che Ver­pflich­tung des Bun­des oder der Län­der zum Tätig­wer­den. Dar­aus abge­lei­tet exis­tiert auch kei­ne finan­zi­el­le Ver­pflich­tung.“ Das heißt, man gibt sich bemüht, ver­bit­tet sich aber, gedrän­gelt oder gar beim Wort genom­men zu wer­den. Gleich­zei­tig kün­dig­te die Ampel aber ein Sofort­pro­gramm an, des­sen inter­dis­zi­pli­när vor­be­rei­ten­de Arbei­ten bereits begon­nen hät­ten, und lob­te sich selbst: Dies wäre „die welt­weit ers­te Erpro­bung ziel­ge­rich­te­ter und kon­zer­tier­ter Beräu­mung muni­ti­ons­be­las­te­ter Flä­chen auf dem Mee­res­bo­den“ (5).

Geplant ist, eine tech­nisch inno­va­ti­ve Ber­gungs­platt­form ent­wer­fen und bau­en zu las­sen, die angeb­lich schon 2024/25 ihre Arbeit zunächst in der Ost­see auf­neh­men soll. Sie soll mit Hil­fe von Robo­tik Muni­ti­on vom Mee­res­bo­den ber­gen und an Bord unschäd­lich machen, so dass Gift- und ande­re Gefahr­stof­fe danach an Land ver­nich­tet wer­den kön­nen. Falls der Plan funk­tio­niert, wird es den­noch eine ver­mut­lich vie­le Jahr­zehn­te dau­ern­de Auf­ga­be. Um so wich­ti­ger wäre es, das Vor­ha­ben nun zügig anzu­pa­cken – nur sieht es danach momen­tan nicht aus.

Vor knapp zwei Jah­ren hat­ten sich in der schleswig-holsteinischen Lan­des­haupt­stadt mehr als 150 Exper­ten bei der „Kiel Muni­ti­on Cle­arance Week“ mit Bestands­auf­nah­me und Auf­ga­ben­stel­lung befasst. Am Ende des Kon­gres­ses for­der­te die Lan­des­re­gie­rung von „der nächs­ten Bun­des­re­gie­rung“ rasche Zusa­gen für eine indus­tri­el­le Ber­gung der gefähr­li­chen Alt­las­ten, denn die Küs­ten­län­der könn­ten dies allein nicht lösen. Wie es danach wei­ter ging, ist oben frag­men­ta­risch beschrie­ben; was indes zu ergän­zen bleibt, ist die Fra­ge der Finan­zie­rung – und die wird, typi­scher­wei­se, zum Bremsklotz.

Grob geschätzt, geht es um mehr als 100 Mil­lio­nen Euro, die das Vor­ha­ben „Platt­form“ von Ent­wick­lung, Bau und Aus­rüs­tung bis zum prak­ti­schen Ein­satz zunächst kos­ten soll. Die Küs­ten­län­der sehen den Bund in der Pflicht, der Bund sieht es als unab­ding­bar an, dass die Küs­ten­län­der sich betei­li­gen; das übli­che Geran­gel. Der Bund hat einen 100-Millionen-Euro-Etat bereit gestellt, der Haus­halts­aus­schuss hat dazu im Novem­ber 2022 ein­deu­tig fest­ge­legt, bis zum 30. Juni die­ses Jah­res „soll die Aus­schrei­bung für die mobi­le, schwim­men­de Anla­ge erfol­gen und bis Ende des Jah­res sol­len ent­spre­chen­de Ver­trä­ge geschlos­sen wer­den“. Das sei erfor­der­lich, um die „Ver­trä­ge für den Bau der Anla­ge noch 2023 schlie­ßen zu kön­nen und das Pilot­pro­jekt so schnellst­mög­lich umzusetzen“.

Das Stich­da­tum ist über­schrit­ten, die Aus­schrei­bung bis­lang nicht erfolgt. Statt­des­sen gewinnt der Streit an Schär­fe, trotz par­la­men­ta­ri­scher Som­mer­pau­se. Vor weni­gen Tagen sorg­te die IHK Nord für Druck mit einem Appell für sofor­ti­ges poli­ti­sches Han­deln. Zuvor hat­te Anfang Juni die grü­ne Bun­des­um­welt­mi­nis­te­rin Stef­fi Lem­ke „ein Kon­zept für das von ihr ange­kün­dig­te ‚Sofort­pro­gramm‘ zur Ber­gung von Muni­ti­ons­alt­las­ten aus Nord- und Ost­see vor­ge­legt“ (6), das sofort in die Kri­tik geriet. Es hieß, dar­in sei vor­ge­se­hen, mit der Alt­las­ten­ber­gung zügig zu begin­nen, und zwar zunächst „mit ver­füg­ba­rer Tech­nik“. Das soll 30 Mil­lio­nen Euro kos­ten, die geplan­te Platt­form par­al­lel ent­wi­ckelt wer­den. Eine Über­prü­fung die­ses Berichts war nicht mög­lich, weil das Minis­te­ri­um dem Autor auf Anfra­ge mit­teil­te, das Doku­ment sei „bis­lang nicht öffent­lich ver­füg­bar. Wir infor­mie­ren Sie, wenn sich dar­an etwas ändern soll­te“. Das ist bis Redak­ti­ons­schluss nicht erfolgt.

Doch nur wie­der Wartegleis?

Kri­tik kam unter ande­rem von der ost­hol­stei­ni­schen SPD-Abgeordneten Bet­ti­na Hage­dorn, die in Lem­kes Vor­ge­hen einen Ver­stoß gegen den Beschluss des Haus­halts­aus­schus­ses sieht (7), denn dar­in sei nicht vor­ge­se­hen, einen Teil der Gel­der anders als für das Platt­form­pro­jekt zu ver­wen­den. Ob Zufall oder nicht, sei dahin gestellt – etwa zeit­gleich berich­te­te die ARD-„tagesschau“ über den Auf­tritt von Anna­le­na Baer­bock (Grü­ne) auf der Außen­mi­nis­ter­kon­fe­renz des Ost­see­rats Anfang Juni in Wis­mar: Baer­bock soll dort unter ande­rem eine Betei­li­gung der Inves­to­ren von Offshore-Windparks an den Kos­ten der Munitionsaltlasten-Bergung ange­regt haben.

Das passt zwar zu den geschil­der­ten Behaup­tun­gen, Lem­kes Kon­zept schmä­le­re den Etat für das inno­va­ti­ve Bergungsplattform-Projekt, denn so könn­ten ja die ent­ste­hen­den Finan­zie­rungs­lü­cken geschlos­sen wer­den. Das passt aber auch exakt zu der hier – ange­sichts der Kom­ple­xi­tät nur exem­pla­risch – geschil­der­ten Geschich­te des gesam­ten Pro­blems und des Ver­hal­tens von Poli­tik und Admi­nis­tra­ti­on: Eine Men­schen und Mee­res­um­welt schüt­zen­de, flä­chen­de­cken­de und effek­ti­ve Erfas­sung, Ber­gung und Ent­sor­gung von Muni­ti­ons­alt­las­ten und Gift­kampf­stof­fen wird so nur dort­hin ver­scho­ben, wo sie schon jahr­zehn­te­lang hat aus­har­ren müs­sen – aufs Wartegleis.

Anmer­kun­gen:
1. ARGE BLMP Nord- und Ost­see – Vor­läu­fer­or­ga­ni­sa­ti­on der heutigen
Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Nord- und Ost­see (BLANO).
2. Muni­ti­ons­be­las­tung der deut­schen Meeresgewässer –
Bestands­auf­nah­me und Emp­feh­lun­gen; Ergeb­nis­be­richt, 10. Novem­ber 2011.
3. BLANO – Muni­ti­ons­be­las­tung der deut­schen Meeresgewässer,
https://www.schleswig-holstein.de/uxo/DE/Kurzfassung/kurzfassung_node.html
4. WD 8 - 3000 - 036/22 vom 12. Mai 2022
5. Deut­scher Bun­des­tag, Druck­sa­che 20/3198
6. https://www.nordschleswiger.dk/de/ vom 20. Juni 2023
7. Pres­se­mit­tei­lung vom 16. Juni 2023