Waßmuth, Carl, und Wolf, Winfried: Verkehrswende – ein Manifest; Köln, 2020; PapyRossa Verlag; Paperback, 200 Seiten; ISBN 978-3-8943-8737-2; Preis 14,90 Euro
„Ein Manifest in 20 Punkten“ nennen Waßmuth und Wolf den zentralen Teil ihres kleinen Buchs – und diese 20 Punkte haben es in sich: Sie könnten zum Handlungs-Leitfaden werden für Menschen, die an unser aller Verkehrsinfrastruktur und dem herrschenden Mobilitätsbegriff Grundlegendes verändern wollen – und zwar mit einer gehörigen Portion politischer Radikalität. Leider ist zu befürchten, dass es dazu zumindest kurzfristig nicht kommen wird – für zu viele, die in der momentanen Verkehrspolitik etwas zu sagen haben, stünde zu viel auf dem Spiel.
Carl Waßmuth ist (laut Umschlagstext) ein ohne Auto in Berlin lebender Bauingenieur und Infrastrukturexperte, der die Initiative „Gemeingut in BürgerInnenhand“ mit gegründet hat. Winfried Wolf muss hier nicht vorgestellt werden, zu oft hat er in WATERKANT selbst geschrieben – oder es wurde (in Rezensionen) über ihn geschrieben. Wenn diese beiden „Verkehrswende“ sagen, dann meinen sie das wörtlich: „Wende“ im Sinne von 180-Grad-Drehung, von Umkrempeln, nicht von hier oder da ein bisschen Veränderung oder Grüntünchung. Was sie fordern, lässt sich am einfachsten mit ihren eigenen Worten wiedergeben:
„Nur ein konsequenter Umbau dieser (gemeint ist die gegenwärtige) Verkehrsorganisation mit den „3-V-Zielsetzungen“ – Verkehr VERMEIDEN, Verkehrswege VERKÜRZEN, verbleibende Verkehre VERLAGERN – wird dem Schutz der Umwelt, dem Gebot der Nachhaltigkeit und dem Respekt vor der Menschenwürde gerecht.“
Ihr Manifest beschreibt gegebene Verhältnisse im Kontext ihrer historischen und gesellschaftlichen Entwicklung, zeigt ihre teils verheerenden Folgen im ökologischen, sozialen und strukturellen Sinne auf. Es formuliert Gegenkonzepte in der erwähnten Radikalität bei gleichzeitig scharfer Kritik an bisherigen „Alternativ“-Diskussionen: Weder die massenhafte Verbreitung von Elektroautos dürfe Kennzeichen künftiger Verkehrspolitik werden noch das Anbeten der totalen digitalen Mobilität – auch wenn beides oft mit dem Etikett „Fortschrittlichkeit“ beklebt daher käme. Nötig sei vielmehr eine Verkehrswende, die „den Menschen, den Umweltschutz und den Kampf gegen die Klimaerwärmung“ ins Zentrum stelle. Bliebe zu ergänzen: …und sonst nichts.
In ihren 20 Punkten konzipieren sie eine Art Stufenplan zum Ausstieg aus dem bisherigen und zum Neuaufbau eines grundlegend anderen Verkehrssystems. Das beginnt, grob zusammengefasst, mit der Entschleunigung unter anderem per Tempolimit, fordert neue Markt- und Netzstrukturen, rückt Fuß- und Fahrradverkehre in deren Zentrum und sattelt einen drastisch ausgebauten ÖPNV zum Nulltarif oben drauf. Ausführlich widmen sich Waßmuth und Wolf einem ausgeweiteten, flexibleren und kostengünstigeren Schienen-Nah- und -Fernverkehr, differenziert zwischen Ballungszentren und ländlichem Raum, plädieren für Verlagerungen des Güterverkehrs weg von der Straße bei gleichzeitiger drastischer Reduzierung. Das fordern sie verständlicherweise auch für den Autoverkehr und plädieren in diesem Zusammenhang für klimaschonende Konvertierung der Industrie unter öffentlicher Kontrolle – einhergehend mit dem Ruf nach deutlich stärkerer Wertschätzung für die Beschäftigten.
Insgesamt liest sich das Manifest wie eine – auf den Verkehrssektor fokussierte – späte Umsetzung dessen, was Umweltverbände und Gewerkschaften vor 25 Jahren bei ihrer gemeinsamen Konferenz „Weniger. Einfacher. Langsamer.“ angedacht und erstkonzipiert, dann aber unvollendet gelassen hatten. Damals war die nötige Radikalität auf der Strecke geblieben, heute geben Waßmuth und Wolf ihr eine neue Chance – es gilt, die nicht nur zu erkennen, sondern sie, über die Verkehrsfrage hinaus ergänzt, gesamtgesellschaftlich anzupacken.
Burkhard Ilschner