Bibliophiles Erlebnis – Rezension

Theo­dor Storm: Der Schim­mel­rei­ter – Novel­le; Ham­burg, 2020; mare Verlag;
Hardcover-Leineneinband im Schu­ber, 256 Sei­ten; ISBN 978-3-8664-8641-6; Preis 20,00 Euro.

Es mag allen, die das Pro­jekt WATERKANT ken­nen, merk­wür­dig erschei­nen, dass an die­ser Stel­le aus­ge­rech­net eine so uralte Geschich­te wie die über den nord­frie­si­schen Deich­gra­fen Hau­ke Hai­en – a.k.a. Schim­mel­rei­ter – als aktu­el­le Neu­erschei­nung vor­ge­stellt wird. Das hat meh­re­re Grün­de. Der eine ist inhalt­li­cher Natur: So alt die Novel­le, die zu Theo­dor Storms Spät­wer­ken zählt, auch ist – sie ist nicht nur in Zei­ten des Kli­ma­wan­dels als Aus­ein­an­der­set­zung um den Deich­bau hoch­ak­tu­ell, son­dern sie muss auch in Spra­che und Aus­drucks­wei­se als radi­ka­ler Kon­tra­punkt zur zeit­gleich ver­öf­fent­lich­ten Rezen­si­on von Yvonne Adhi­am­bo Owu­ors Roman „Das Meer der Libel­len“ bezeich­net wer­den: Zwei Mee­re, zwei Kul­tu­ren, zwei unter­schied­li­che Epo­chen, zwei Sicht­wei­sen – und doch wird deut­lich, wie unnach­gie­big prä­gend Mee­re für Men­schen sind.

Der ande­re Grund aber ist – wenn man so will – ein ästhe­ti­scher. Denn die Aus­ga­be, die der mare-Verlag hier vor­legt, ist ein biblio­phi­les Erleb­nis, ein Genuss für das lesen­de Auge und erst recht für die „zuge­hö­ri­ge“ hal­ten­de Hand: In einem nur post­kar­ten­gro­ßen, offe­nen Kar­ton­schu­ber steckt ein klei­nes, fei­nes Büch­lein – sehr hand­lich und ange­nehm grif­fig. Win­ter­abend, drau­ßen ger­ne kal­ter Sturm und/oder Schnee, drin­nen ein war­mes Sessel-Plätzchen, Grog oder „Pha­ri­sä­er“ auf dem Tisch und dazu die­se Geschich­te… – Der fes­te Lei­nen­ein­band zeigt einen Holz­schnitt von Hans Fried­rich Grohs, die Novel­le selbst ist nicht illus­triert; wozu auch, die Bil­der ent­ste­hen beim Lesen im Kopf. Ein Nach­wort von Jan Chris­to­pher­sen erläu­tert das Ent­ste­hung und Her­kunft der Storm’schen Erzäh­lung, ver­sucht eine sub­jek­ti­ve Ein­ord­nung. Ein Glos­sar hilft beim Lesen – Storm selbst soll es „für bin­nen­län­di­sche Leser“ ange­hängt haben, hier ist es noch ergänzt worden.

Es dürf­te müßig sein, hier auf den Inhalt der Novel­le detail­lier­ter ein­zu­ge­hen – über die äußerst eng mit der Nord­see­küs­te und ihren Men­schen ver­knüpf­te Geschich­te ist viel geschrie­ben wor­den. Storms Spra­che ist so archa­isch wie die dama­li­ge Natur und die von ihr gepräg­ten Men­schen mög­li­cher­wei­se gewe­sen sind – und es ist gut, dass der Ver­lag sich nicht dem unsäg­li­chen Zeit­geist ange­passt (oder gebeugt) hat, Wort­wahl und Aus­drucks­wei­se im Sin­ne der „poli­ti­cal cor­rect­ness“ zu ent­stel­len. Im Ergeb­nis hält man ein Buch in der Hand, dass einen in eine ande­re Zeit ent­führt: Es ist eine Anre­gung, sich mit die­ser – ger­ne auch abgren­zend – aus­ein­an­der­zu­set­zen, und zugleich eine Auf­for­de­rung, zu erken­nen, dass Mensch und Meer nur in gegen­sei­ti­ger Rück­sicht­nah­me mit­ein­an­der auskommen.

Peer Jans­sen