Rex, Markus: Eingefroren am Nordpol – Das Logbuch von der „Polarstern“;
München, 2020; C. Bertelsmann Verlag; Hardcover, 320 Seiten;
ISBN 978-3-5701-0414-9; Preis 28,00 Euro.
Die Begriffe der Überschrift sind alles andere als Übertreibung – „Eisig“, „Forschung“, „Abenteuer“. Es geht um die bislang größte Arktis-Expedition aller Zeiten, die einjährige, international besetzte und unterstützte Nordpol-Reise des ebenso bewährten wie betagten Bremerhavener Forschungseisbrechers „Polarstern“.
Schon der Name des Projekts klingt abenteuerlich: Die Abkürzung „MOSAiC“ steht für „Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate“ – zu deutsch: Multidisziplinäres schwimmendes Observatorium zur Erforschung des arktischen Klimas. Der Name ist Programm: Im Herbst 2019 hatte sich die „Polarstern“ – gestützt auf Daten des Pioniers Fritjof Nansen sowie sowjetischer Polarexpeditionen der 1930er Jahre – mehrere hundert Kilometer vom Nordpol entfernt an einer riesigen Eisscholle festfrieren lassen. Mit einer nur kurzen, technisch bedingten Unterbrechung war sie anschließend ein Jahr lang an und mit dieser Scholle durch das Nordpolarmeer gedriftet – dicht am Nordpol vorbei und bis zur Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen. An Bord lebten und arbeiteten in wechselnder Besetzung einige hundert Forschende aus 20 Nationen und unterschiedlichsten Fachrichtungen. Ihre gemeinsame Aufgabe: Kontinuierliche Messungen des Wassers, des Eises sowie der Luft – bis in große Höhen – vorzunehmen und so in der Arktis als dem „Epizentrum des Klimawandels“ wissenschaftliche Daten zu sammeln, um aktuelle Modelle der Klimaentwicklung überprüfen, korrigieren oder in Teilen neu erstellen zu können.
Diese kurze Beschreibung macht klar: Das Projekt MOSAiC war auch ein gigantisches logistisches Vorhaben. Es bedurfte nicht nur einer mehrjährige Vorbereitung, auch während des Expeditionsjahres brauchte es die Unterstützung von zwei weiteren deutschen Forschungsschiffen sowie vier russischen Eisbrechern, die zusammen mit Flugzeugen und Helikoptern nicht nur die Versorgung, sondern auch mehrfachen Team-Wechsel gewährleisteten. Insbesondere die Tatsache, dass während der bereits mehrere Monate laufenden Expedition die Corona-Pandemie ausbrach, sorgte hier für etliche Komplikationen.
Kurzer Exkurs: Die Verantwortlichen dieser Expedition haben uns allen vorexerziert, wie in Pandemie-Zeiten ein Wechsel von Schiffsbesatzungen – hier meint das sowohl die Crew als auch die Forschenden – möglich ist. In Bremerhaven wurden (wegen Corona ohnehin geschlossene) Hotels angemietet, in denen erst die neuen Teams ihre Quarantäne absolvierten, anschließend wurden hier die von Bord geholten Teams einquartiert. Erfolg: Es ist kein Infektions-Fall bekannt geworden. Das war ein nicht nur sicheres, sondern zweifellos auch teures Unterfangen – und trotzdem hätte eben dies ein Modell sein können und müssen für die Reeder und Schiffseigner der Handelsschifffahrt nicht nur in Deutschland, die monatelang und zum Teil bis heute ihren Besatzungen einen tariflichen und humanitären Austausch vorenthalten und dennoch in Pandemie-Zeiten richtig gut verdient haben.
Zurück zum vorliegenden Buch: Es ist nur eine von mehreren Veröffentlichungen, mit denen unmittelbar nach Ende der Reise die publizistische Auswertung begonnen wurde – übrigens lange vor der wissenschaftlichen, die angesichts der Messdaten- und Probenmenge wohl mehrere Jahre dauern dürfte. Autor dieses Buches ist der 54 Jahre alte Atmosphärenphysiker Markus Rex vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) als Leiter dieser Expedition. Er hat das toll illustrierte Werk über die einem „Logbuch“ eigentlich gebührende Sachlichkeit hinaus auch als Tagebuch geschrieben. Folgerichtig gibt das Buch die Tage 1-103 und 225-367 wieder: Dazwischen hatte Rex Heimatpause, wenngleich seine eigentlich geplante Erholung beeinträchtigt wurde durch die Pandemie und ihre organisatorische Bewältigung.
Insgesamt schildert er einen Alltag unter Extrembedingungen, erläutert wissenschaftliche Fakten – jeweils ergänzt durch Retrospektiven sowie additive Kästen zur Erläuterung von Details oder Hintergründen – und beschreibt leidenschaftlich einen faszinierend unbekannten Teil dieser Welt. Kaum ein Tag vergeht an Bord ohne unerwartete Herausforderungen. Die natürliche Umgebung des Eises und des Polarmeers in der Dunkelheit der langen Winternacht – meist schön, oft bedrohlich –, plötzlich sich krachend verändernde Eismassen oder aufbrechende Spalten, neugierige Eisbären, beeindruckende Polarlicht-Nächte, frostige Stürme, in eisiger Kälte versagende Technik, logistische Probleme und vieles andere mehr: Für permanente Überraschungen ist in dieser sachlich fesselnden und überwiegend flüssig zu lesenden Mischung aus Log- und Tagebuch mehr als gesorgt.
Burkhard Ilschner