Ever Given“: Havarie-Ursache bleibt ungeklärt

Vor knapp 14 Mona­ten leg­te sich das 400 Meter lan­ge Con­tai­ner­schiff „Ever Given“ im Suez­ka­nal quer, blo­ckier­te acht Tage lang mehr als 370 ande­re Schif­fe. Die Fol­gen für die glo­ba­le Han­dels­schiff­fahrt, für See­leu­te und Lie­fer­ket­ten, sind zwar bis heu­te spür­bar – den­noch gibt es bis heu­te kei­ne qua­li­fi­zier­te amt­li­che Unter­su­chung des Unfalls: Das erläu­ter­te ver­gan­ge­ne Woche der Kie­ler Kanal­lot­se Gerald Immens bei einem Vor­trag vor dem Nau­ti­schen Ver­ein (NV) Bremerhaven. 

Der Zwi­schen­fall hat anhal­ten­des Cha­os aus­ge­löst, das durch Covid-19 sowie die Ukraine-Krise noch poten­ziert wird. Über sei­ne Ursa­chen und sei­ne Kon­se­quen­zen ist viel spe­ku­liert wor­den. Immens äußer­te indes die Ver­mu­tung, dass es wohl nie­mals zu einer fun­dier­ten Auf­klä­rung kom­men wür­de: Zustän­dig wären neben der ägyp­ti­schen Kanal­be­hör­de und der Evergreen-Reederei – bei­de strit­ten sich lan­ge über Scha­dens­er­satz und schei­nen bei der Eini­gung die Schuld­fra­ge aus­ge­klam­mert zu haben – allen­falls der Flag­gen­staat Pana­ma; der aber ist, wie Immens süf­fi­sant anmerk­te, sel­ten inter­es­siert an detail­lier­ten Untersuchungen.

Immens ist Lot­se am Nord-Ostsee-Kanal (NOK) und Sach­ver­stän­di­ger bei Schiffs­un­fäl­len, gehört zum Vor­stand des NV Kiel und war meh­re­re Jah­re lang Prä­si­dent des Bun­des­ver­ban­des der See- und Hafen­lot­sen. Fach­leu­te wie er kön­nen auch dann viel auf- und erklä­ren, wenn nur öffent­lich ver­füg­ba­re Schiffs-, Fahrt- und Kanal-Daten zum Havarie-Verlauf und Wet­ter­mel­dun­gen vor­lie­gen. Und so räumt Immens vor über­wie­gend sach­kun­di­gem Publi­kum erst ein­mal auf mit fal­schen Gerüch­ten – vom Mär­chen, der Kapi­tän habe vor der Kanal­ein­fahrt kru­de Kur­ven gefah­ren, bis zum Gere­de vom angeb­lich herr­schen­den Sandsturm.

Statt­des­sen erläu­tert der Lot­se anschau­lich – mit Gra­fi­ken aus den abruf­ba­ren Kurs­da­ten des seit rund 20 Jah­ren in der Schiff­fahrt vor­ge­schrie­be­nen auto­ma­ti­schen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­sys­tems (AIS) –, war­um er die Hava­rie meh­re­ren gra­vie­ren­den Navi­ga­ti­ons­feh­lern zuschreibt. Ohne hier nau­ti­sche und hydro­dy­na­mi­sche Details zu ver­tie­fen: Die aktu­el­le Schiffs­füh­rung – Kapi­tän und zwei Lot­sen – hät­ten offen­bar tem­po­rär star­ken Sei­ten­wind nicht berück­sich­tigt, des­sen Wir­kung falsch aus­ge­gli­chen und dabei das rie­si­ge Schiff deut­lich schnel­ler als erlaubt und nau­tisch sinn­voll gefah­ren. Was nach Immens‘ Beschrei­bung wegen unbe­rück­sich­tig­ter phy­si­ka­li­scher Gesetz­mä­ßig­kei­ten dazu geführt habe, dass sich die „Ever Given“ in die Kanal­bö­schung bohr­te – und aus eige­ner Kraft nicht mehr freikam.

In sei­ner Gesamt­bi­lanz skiz­ziert der erfah­re­ne Lot­se eine Ver­flech­tung mög­li­cher Ursa­chen, die sich fast zu einer Art sys­te­mi­schen Ver­sa­gens sum­miert haben könn­ten: Dif­fe­ren­zen auf der Brü­cke, wider­sprüch­li­che Anord­nun­gen der Lot­sen, unzu­rei­chen­de Vor­schrif­ten über Schlepper-Begleitung – die „Ever Given“ hat­te kei­ne –, Kos­ten­druck auf den Kapi­tän, unzu­rei­chen­de Grenz­wer­te und man­gel­haf­tes Regel­werk – „Maxi­mal­schif­fe erfor­dern maxi­ma­le Vor­schrif­ten“ – und vie­les ande­re mehr; aus Immens‘ Ana­ly­se lie­ße sich leicht ein Kri­mi stricken.

Apro­pos Schiffs­grö­ße: Obwohl auf Con­tai­ner­rie­sen wie der „Ever Given“ das Brü­cken­haus kon­struk­ti­ons­tech­nisch bereits ans vor­de­re Drit­tel des 400-Meter-Rumpfs gerückt wor­den ist, erläu­tert Immens, dass die Schiffs­füh­rung nur ein­ge­schränk­te Sicht hat – „rund 650 Meter vor dem Schiff sind nicht ein­seh­bar“ – und somit den Frach­ter nur nach GPS und elek­tro­ni­scher See­kar­te fah­ren kann. Als Aus­bil­der, der er auch ist, sorgt er sich, see­män­nisch kön­ne die Fähig­keit zum eige­nen Navi­gie­ren ver­lo­ren gehen. Den Trend zu immer grö­ße­ren Schif­fen sieht er zum einen kri­tisch wegen ihrer ein­ge­schränk­ten Beherrsch­bar­keit – „zwei Maschi­nen wären bes­ser“. Zugleich aber hält Immens ein Ende die­ses Trends für mög­lich und ver­weist als Bei­spiel auf den däni­schen Kon­zern Mærsk: Wäh­rend sich etli­che Ree­der aktu­ell wei­te­re 400-Meter-Giganten bau­en las­sen, haben die Dänen sich nur 350 Meter lan­ge 16.000-TEU-Schiffe in neu­em Design bestellt – die Brü­cke ganz vorn auf dem Vor­schiff, der Schorn­stein am Heck: bes­se­re Stau­mög­lich­keit, merk­li­che Treibstoff-Einsparung und dank Metha­nol­an­triebs deut­lich gesenk­te Emissionen.

Eine ähn­li­che Ver­si­on die­ses Tex­tes erschien
heu­te in der Tages­zei­tung „jun­ge Welt“.

 

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WATERKANT-Redaktion