853 Tage Arbeitskampf – ein Rückblick

Seit Mona­ten toben in Groß­bri­tan­ni­en hef­tigs­te Arbeits­kämp­fe, Hun­dert­tau­sen­de aus vie­len Bran­chen sind betei­ligt – unter ande­rem auch Hafen­ar­bei­ter bei­spiels­wei­se in Liver­pool. Deren erfolg­rei­cher Streik1 hat im In-und Aus­land Erin­ne­run­gen geweckt an den legen­dä­ren Arbeits­kampf von rund 500 Liver­poo­ler Dockern, der im Herbst 1995 begann und erst nach 853 Tagen (!) am 27. Janu­ar 1998, heu­te vor 40 Jah­ren, been­det wur­de. Die Zeit­schrift WATERKANT war damals aktiv betei­ligt an der brei­ten Soli­da­ri­täts­kam­pa­gne für die strei­ken­den Docker und ihre Fami­li­en: Des­halb ist die­ser Jah­res­tag Anlass für eine ange­mes­se­ne Erinnerung. 

Um den sei­ner­zeit welt­weit Auf­se­hen erre­gen­den Langzeit-Streik in sei­nen poli­ti­schen Dimen­sio­nen begrei­fen zu kön­nen, ist ein­gangs ein kur­zer Rück­blick in die Ära nach dem Zwei­ten Welt­krieg erfor­der­lich: Im Jah­re 1947 schuf die damals von der Labour Par­tei gestell­te bri­ti­sche Regie­rung mit dem Natio­nal Dock Labour Sche­me (NDLS) ein lan­des­weit gül­ti­ges Tarif­ge­fü­ge, das die jahr­hun­der­te­lang gewohn­te Tage­löh­ne­r­ei in den Häfen been­de­te. Alle Hafen­ar­bei­ter beka­men fes­te Arbeits­ver­hält­nis­se in einer staat­li­chen Betriebs­ge­sell­schaft. Die­ses Sys­tem funk­tio­nier­te mehr als 40 Jah­re lang – doch dann kam Mar­ga­ret Thatcher.

Die kon­ser­va­ti­ve Pre­mier­mi­nis­te­rin war 1979 ange­tre­ten, die star­ke natio­na­le Gewerk­schafts­be­we­gung zu kne­beln und zu zer­schla­gen. Das soll­te dem bri­ti­schen Kapi­tal durch umfas­sen­de „Pri­va­ti­sie­rung“ öffent­li­cher Auf­ga­ben neue inlän­di­sche Märk­te öff­nen. Auf That­chers schwar­zer Lis­te stand unter ande­rem auch das Hafen­ta­rif­kon­zept NDLS – laut Regie­rung ein Ana­chro­nis­mus, der nicht in die kon­ser­va­ti­ve Stra­te­gie von Dere­gu­lie­rung und Fle­xi­bi­li­sie­rung passte.

That­chers bru­ta­le Methoden

1989 beant­wor­te­ten die eng­li­schen Hafen­ar­bei­ter That­chers Ver­such, das NDLS zu zer­schla­gen, zunächst mit einem lan­des­wei­ten, sechs­wö­chi­gen Streik2. Ver­geb­lich: Obwohl die­se Aus­ein­an­der­set­zung in eine Pha­se hef­ti­ger innen­po­li­ti­scher Kon­flik­te wegen hoher Infla­ti­on und dem Abbau sozia­ler Leis­tun­gen fiel, schei­ter­te der Ver­such. Etli­che Gewerk­schaf­ten waren unter­ein­an­der zer­strit­ten, teils über­an­ge­passt; die Bergarbeiter-Union NUM hat­te That­cher weni­ge Jah­re zuvor bereits mit bru­tals­ten Metho­den geschwächt. Zahl­rei­che ange­stamm­te gewerk­schaft­li­che Rech­te waren auf­ge­ho­ben bezie­hungs­wei­se deren Wahr­neh­mung – etwa Soli­da­ri­täts­streiks oder die so genann­ten fly­ing pickets, die bran­chen­über­grei­fen­de Unter­stüt­zung durch Streik­pos­ten ande­rer Betrie­be – mit Stra­fen belegt wor­den. Die Hafen­ar­bei­ter muss­ten auf­ge­ben, die NDLS-Gesellschaft wur­de in loka­le Ein­zel­un­ter­neh­men auf­ge­split­tet. Mehr als 9000 Beschäf­tig­te wur­den gefeu­ert und fan­den nur teil­wei­se wie­der Jobs in den fort­an (wie­der) übli­chen Tagelöhner-Bataillonen.

Nicht so in Liver­pool. Am Mer­sey war man schon immer kampf­stark gewe­sen. Hier waren Schif­fe mit Fracht für Süd­afri­kas Apart­heid­re­gime boy­kot­tiert oder nach dem Pinochet-Putsch chi­le­ni­sche Frach­ter blo­ckiert wor­den, eben­so Trans­por­te mit Gift­müll, der die Mee­res­um­welt gefähr­de­te. „Soli­da­ri­tät“, so erklär­te es spä­ter Docker Ter­ry Sou­thers mal dem Autor, „gibt‘s bei uns mit der Mut­ter­milch“. Die Liver­poo­ler Docker waren 1989 die letz­ten, die aus dem Streik an ihre Arbeits­plät­ze zurück­kehr­ten – aber sie waren auch die letz­ten, die als fes­te, stän­dig Beschäf­tig­te übrig­blie­ben. Für Liver­pool ent­stand aus den Trüm­mern des NDLS die Mer­sey Docks and Har­bour Com­pa­ny (MDHC) als Hafen­be­triebs­ge­sell­schaft – und das recht erfolg­reich: Der Umschlag nahm erheb­lich zu, die Gewin­ne des Hafens stie­gen von 8,3 Mil­lio­nen Pfund Ster­ling im Jah­re 19893 auf erkleck­li­che 33,6 Mil­lio­nen Pfund Ster­ling im Jah­re 1994.

Den Liver­poo­ler Dockern war aber klar, dass weder die Kon­ser­va­ti­ven in Lon­don noch die hei­mi­schen Hafen­ma­na­ger die ihnen zuge­füg­te Nie­der­la­ge auf Dau­er hin­neh­men wür­den. Prompt folg­te weni­ge Jah­re spä­ter der ers­te Ver­such, auch am Mer­sey Tage­löh­ner­ver­hält­nis­se durch­zu­set­zen: Im August 1995 ließ die MDHC bei ihrer Toch­ter­fir­ma Tor­si­de Ltd. ver­suchs­hal­ber 20 von 80 Beschäf­tig­ten ent­las­sen, um sie durch „unstän­di­ge“ Arbei­ter zu erset­zen, die nur noch je nach Umschlags­men­gen und Arbeits­kräf­te­be­darf soll­ten abge­ru­fen wer­den kön­nen. Den fol­gen­den Streik beant­wor­te­te Tor­si­de zwar zunächst mit Kon­kurs­dro­hung und woll­te alle 80 feu­ern, knick­te dann jedoch ein und gab nach.

Liver­pool, 1995: Der Kampf der Hafen­ar­bei­ter war
gene­ra­tio­nen­über­grei­fend.
© David Sin­clair - flickr

Aber nur zum Schein. Es begann ein Klein­krieg um Über­stun­den­be­zah­lung und ande­re Pro­vo­ka­tio­nen. Als eini­ge Arbei­ter Mehr­ar­beit ohne Bezah­lung ver­wei­ger­ten, flo­gen sie raus; die übri­gen soli­da­ri­sier­ten sich und tra­ten in den Streik. Die­ses Mal erklär­te Tor­si­de den Aus­stand unter Hin­weis auf That­chers Geset­ze für ille­gal, kün­dig­te allen – und ern­te­te einen Streik der kom­plet­ten MDHC-Belegschaft. Am 28. Sep­tem­ber 1995 wur­den dar­auf­hin alle 500 gefeu­ert. Es begann ein Arbeits­kampf von bis­lang unge­kann­ter Dau­er und Schär­fe auch, weil Hafen­ar­beit tra­di­tio­nell „in der Fami­lie“ lag, also vom Opa an den Vater und den Sohn „wei­ter­ge­ge­ben“ wur­de. Dies mach­te den Streik zu einem Ereig­nis gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­den Zusammenhalts.

Schnell wur­de klar, war­um die MDHC sich stark genug gefühlt hat­te, die­sen Schritt zu wagen: In den lan­gen und teils hef­ti­gen Arbeits­kämp­fen ver­gan­ge­ner Jah­re hat­ten sich etli­che cle­ve­re Geschäfts­leu­te ein lukra­ti­ves, neu­es Betä­ti­gungs­feld gesucht. Sie schu­fen pro­fes­sio­nel­le Streik­bre­cher­fir­men, deren Per­so­nal sie meist aus ent­las­se­nen Zeit­sol­da­ten und ehe­ma­li­gen Beschäf­tig­ten ande­rer Sicher­heits­be­rei­che rekru­tier­ten. Prompt über­nahm Ende Sep­tem­ber 1995 die damals bereits lan­des­weit berüch­tig­te Fir­ma „Dra­ke Inter­na­tio­nal“ aus Kent die Arbeit im Liver­poo­ler Hafen – aber nicht ohne Pro­ble­me: Den Streik­bre­chern fehl­te die fach­li­che Qua­li­fi­ka­ti­on, man­che Kapi­tä­ne ver­wei­ger­ten wegen unsach­ge­mä­ßen Stau­ens von Ladung die Zusam­men­ar­beit und etli­che See­ver­si­che­rer schraub­ten ihre Prä­mi­en in die Höhe.

Streik­bre­cher gefähr­den Sicher­heit im Hafen 

Für Ree­der und Char­te­rer wur­de das Anlau­fen von Liver­pool zum wirt­schaft­li­chen Risi­ko, denn ihre so erhöh­ten Kos­ten konn­ten sie unmög­lich auf die Fracht­ra­ten auf­schla­gen, dafür war die Kon­kur­renz auf den Welt­mee­ren zu scharf. Die Fol­ge: MDHC muss­te die Prei­se drü­cken, also Kos­ten spa­ren, selbst den Streik­bre­chern wur­den sozia­le Dau­men­schrau­ben ange­legt. Vor dem Streik lagen die durch­schnitt­li­chen Stun­den­löh­ne der MDHC-Arbeiter bei neun Pfund Ster­ling. Die ers­te Mann­schaft von Dra­ke wur­de mit vier Pfund die Stun­de bezahlt. Das sorg­te selbst in der unqua­li­fi­zier­ten Kämp­fer­trup­pe für Unzu­frie­den­heit, eini­ge flo­gen raus, die Ersatz­leu­te aber beka­men auf ein­mal nur noch 2,75 Pfund Ster­ling. MDHC hat­te so zwar kon­kur­renz­los nied­ri­ge Hafen­prei­se, die Sicher­heits­ri­si­ken aber nah­men zu – und spra­chen sich inter­na­tio­nal herum.

Im Ver­gleich dazu fes­tig­te sich die Streik­front beacht­lich: Die rund 500 geschass­ten MDHC-Arbeiter erfuh­ren brei­tes­te Unter­stüt­zung – nicht nur in Liver­pool, das schon immer eine Gewerk­schafts­hoch­burg gewe­sen war, son­dern auch im gan­zen Land und als­bald sogar inter­na­tio­nal. In Liver­pool und Umge­bung flos­sen von Beleg­schaf­ten ande­rer Betrie­be und aus nahe­zu allen Tei­len der Bevöl­ke­rung Spen­den in den Streik­fonds – selbst man­che Unter­neh­mer zahl­ten ein, wenn nicht aus loka­ler Soli­da­ri­tät, dann aus Sor­ge, eine Nie­der­la­ge der Docker kön­ne die Regi­on als Gan­zes und damit ihre eige­nen Umsät­ze schwächen.

Women of the Water­front“ (WoW) nann­ten sich die kämp­fe­ri­schen Frau­en der Hafen­ar­bei­ter.
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Die Unter­stüt­zung nahm viel­fäl­ti­ge und viel beach­te­te For­men an: Vor loka­len Fuß­ball­are­nen wur­den Spen­den gesam­melt, in Kauf­häu­sern, Knei­pen oder Kinos stan­den Spen­den­büch­sen. Ins­be­son­de­re die teil­wei­se spek­ta­ku­lä­ren Aktio­nen der „Women of the Water­front“ (WoW) erreg­ten inter­na­tio­nal Auf­se­hen: Bereits kurz nach Streik­be­ginn hat­ten sich die Frau­en der Hafen­ar­bei­ter orga­ni­siert und mobi­li­sier­ten selbst­tä­tig zu stark besuch­ten Ver­an­stal­tun­gen. Sie reih­ten sich ein in die picket lines, die Streik­pos­ten­fron­ten vor den Hafen­zu­fahr­ten, sie blo­ckier­ten aktiv zen­tra­le Stra­ßen – teil­wei­se pro­vo­ka­tiv tan­zend und sin­gend – und „über­re­de­ten“ Last­wa­gen­fah­rer, Tou­ren mit Fracht vom und zum Hafen zu ver­wei­gern. Ihren Ehe­män­nern gelang es dank sol­cher Ablen­kun­gen immer wie­der, aufs Ter­mi­nal­ge­län­de vor­zu­drin­gen, vor­über­ge­hend Con­tai­ner­brü­cken zu beset­zen und so den Hafen­be­trieb tem­po­rär lahmzulegen.

Die­se und ande­re For­men des Wider­stands hat­ten Fol­gen: Vor den Hafen­zu­fahr­ten gab es Aus­ein­an­der­set­zun­gen, wenn ört­li­che Poli­zei­kräf­te die Streik­bre­cher gewalt­sam durch die picket lines eskor­tier­ten, häu­fig auch unter bru­ta­lem Knüp­pel­ein­satz. Das sorg­te natür­lich für Empö­rung in der Stadt, dort erin­ner­te man sich gut an die Zei­ten vor dem NDLS, als Tage­lohn­ha­fen­ar­beit die Lebens­hal­tung geprägt hat­te: Nur wenn Schif­fe im Hafen lagen, hat­te es damals Arbeit, Lohn und damit Nah­rung und Klei­dung gege­ben. Jetzt soll­te der Tage­lohn zurück­keh­ren – das galt es zu verhindern.

Rabia­te Polizeieinsätze

Mit jedem Poli­zei­ein­satz ver­stärk­te sich einer­seits die Soli­da­ri­tät und nahm immer krea­ti­ve­re For­men an; ande­rer­seits ver­schärf­ten Staats­ge­walt und Poli­zei im Lau­fe des offen­sicht­lich nicht enden wol­len­den Arbeits­kamp­fes ihren Druck und ihre Vor­ge­hens­wei­se. Letz­te­res äußer­te sich etwa im Her­aus­grei­fen ein­zel­ner Streik­pos­ten, zuse­hends auch in Fest­nah­men und Abur­tei­lun­gen, man­chen wur­den Buß­gel­der oder Kau­tio­nen auf­er­legt, die es ihnen ver­bo­ten, sich erneut in die picket line ein­zu­rei­hen. Auch Frau­en der WoW-Allianz oder soli­da­ri­sche Demons­tran­ten waren betrof­fen von den poli­zei­li­chen Über­grif­fen. Übri­gens soll der Poli­zei­schutz für Streik­bre­cher die Staats­kas­se ins­ge­samt vier Mil­lio­nen Pfund gekos­tet haben.

Poli­zei­ein­sät­ze gegen strei­ken­de Hafen­ar­bei­ter und ihre Unter­stüt­zer waren all­täg­lich.
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Pro­ble­ma­tisch war die Rol­le der Gewerk­schaft: Die Füh­rung der in den Jah­ren zuvor bereits von hef­ti­gen inne­ren Kämp­fen zer­ris­se­nen Trans­port and Gene­ral Workers’ Uni­on (TGWU) ging auf Distanz zu den Liver­poo­ler Dockern. Das lin­ke Por­tal World Socia­list Web Site bei­spiels­wei­se for­mu­lier­te4, die Gewerk­schafts­spit­ze habe den „Kampf der Liver­poo­ler Hafen­ar­bei­ter erwürgt“. TGWU-Chef Bill Mor­ris wur­de gar das Zitat nach­ge­sagt5, man kön­ne „für eine Hand­voll Leu­te (…) doch nicht die Exis­tenz der Gewerk­schaft aufs Spiel set­zen, das müss­ten die Docker doch ver­ste­hen“: Die TGWU-Oberen fürch­te­ten bei Unter­stüt­zung die­ses for­mal ille­ga­len Arbeits­kamp­fes hohe Ent­schä­di­gungs­for­de­run­gen und finan­zi­el­le Stra­fen bis hin zur Beschlag­nah­me des Gewerk­schafts­ver­mö­gens. Vie­le Docker ver­stan­den es nicht.

Es war – damals wie in heu­ti­ger Nach­schau – ein kom­pli­zier­tes Ver­hält­nis. Fast alle Strei­ken­den waren wie selbst­ver­ständ­lich TGWU-Mitglieder und erhiel­ten von ihres­glei­chen brei­te Unter­stüt­zung. Zwar hat­te die TGWU-Führung über das loka­le Mer­sey Port Shop Ste­wards Com­mit­tee, nach hie­si­ger Dik­ti­on so etwas wie der Ver­trau­ens­leu­te­kör­per, eine gewis­se Kon­trol­le über die Strei­ken­den, ver­such­te oft auch Akti­vi­tä­ten zu brem­sen. Letzt­lich aber konn­te sie die Soli­da­ri­tät, die aus den loka­len Sek­tio­nen der eige­nen wie ande­rer Gewerk­schaf­ten und aus den Betrie­ben erwuchs, nicht stop­pen. Neben hef­ti­ger Kri­tik an der Sozi­al­part­ner­schaft zwi­schen TGWU-Spitze und MDHC stan­den Lob und Jubel über den brei­ten Rück­halt aus den Basis­struk­tu­ren der Gewerkschaft.

Inter­na­tio­na­le Solidarität

Die krea­ti­ve Soli­da­ri­tät blüh­te der­weil in fast allen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Berei­chen. Regis­seur Ken Loach wid­me­te den Dockern mit „Fli­cke­ring Fla­me“ einen land­auf, land­ab gezeig­ten Doku­men­tar­film. Liver­pools Star­fuß­bal­ler Robin Fow­ler zeig­te bei einem Spiel ein T-Shirt, das die Docker unter­stütz­te. Als die UEFA ihn mit 900 Pfund Stra­fe beleg­te, gab er einen deut­lich höhe­ren Betrag an den Dockers’ Fight­ing Fund. Sän­ger Bil­ly Bragg soli­da­ri­sier­te sich mit den Dockern: „Sie haben sich gewei­gert, den Streik zu bre­chen und wur­den ent­las­sen. Das ver­letzt das grund­le­gen­de Recht der Arbei­ter auf der gan­zen Welt, sich gewerk­schaft­lich zu orga­ni­sie­ren.“ Es gab Unter­stüt­zungs­fes­ti­vals, deren Besu­cher reich­hal­tig spen­de­ten. Nam­haf­te Bands wie Oasis, Chum­ba­wam­ba oder Pri­mal Scream ver­zich­te­ten auf Gagen und gaben Plat­ten­tan­tie­men für die Strei­ken­den. Auch die öko­so­zia­le Raver-Bewegung Recla­im the Streets soli­da­ri­sier­te sich und blo­ckier­te am zwei­ten Jah­res­tag des Streiks 1997 mit meh­re­ren hun­dert Akti­vis­ten und 70 Dockern den MDHC-Hafen Sheerness.

Immer wie­der kamen Docker aus ande­ren Län­dern nach Liver­pool,
um die strei­ken­den Kol­le­gen zu unter­stüt­zen.
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Auch vie­le loka­le Sek­tio­nen der Labour-Partei orga­ni­sier­ten oder gaben Spen­den und Gruß­bot­schaf­ten. Deren Par­tei­füh­rung unter Tony Blair indes hat­te sich von Anfang an auf­fäl­lig zurück­ge­hal­ten – und das setz­te sich fort, als Blair im Mai 1997 den kon­ser­va­ti­ven Thatcher-Nachfolger John Major als Pre­mier­mi­nis­ter ablös­te. Viele Docker hat­ten Hoff­nung in Blair und einen Regie­rungs­wech­sel gesetzt – sie wur­den bit­ter ent­täuscht. Weder vor noch nach der Amts­über­nah­me hielt „Tony That­cher“, wie vie­le Docker ihn als­bald sar­kas­tisch nann­ten, es für nötig, mit den Strei­ken­den zu reden, geschwei­ge denn, für sie zu ver­mit­teln. So wur­de Ent­täu­schung als­bald zu Wut und Empö­rung: Schließ­lich war die Regie­rung damals größ­ter Aktio­när der MDHC und hät­te somit alle Mög­lich­kei­ten der Ein­fluss­nah­me gehabt. Statt des­sen gab Blair den Dockern die Emp­feh­lung, die von der MDHC ange­bo­te­ne Abfin­dung zu kas­sie­ren und die Arbeit im Hafen den neu­en Leu­ten, sprich: den Streik­bre­chern zu über­las­sen. Den TGWU-Chef Mor­ris for­der­te er gar auf4, den pein­li­chen Streit schnell zu been­den – auf Kos­ten der Docker: Alle Här­tel­eis­tun­gen wur­den eingestellt.

Wie­der­holt ver­such­te die MDHC, teils auch mit Unter­stüt­zung der TGWU-Spitze, die Streik­front mit Abfin­dungs­an­ge­bo­ten auf­zu­bre­chen; immer wie­der lie­fen die­se Ver­su­che ins Lee­re, obwohl vie­len Hafen­ar­bei­ter­fa­mi­li­en das Was­ser bis zum Hals stand. Vie­le muss­ten sich dras­tisch ein­schrän­ken, oft gerie­ten auch ihre Hypo­the­ken ins Wan­ken, weil Ban­ken sich treu auf die Sei­te der MDHC und der Regie­rung schlu­gen und här­te­re Bedin­gun­gen diktierten.

Glo­ba­le „fly­ing pickets“

In ihrer oft ver­zwei­fel­ten Situa­ti­on setz­ten die Liver­poo­ler Hafen­ar­bei­ter ver­stärkt auf inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät – und das mit beacht­li­chem Erfolg. „Das Sys­tem mit den Mit­teln des Sys­tems schla­gen“, lau­te­te ihre Devi­se, und das ging so: Liver­pool war damals Ziel­ha­fen vie­ler Ree­de­rei­en aus Kana­da und den USA, von Häfen der Atlan­tik­küs­te oder der fünf Gro­ßen Seen. Hin­zu kamen Ver­bin­dun­gen nach Skan­di­na­vi­en, ins Mit­tel­meer, nach Aus­tra­li­en oder Neu­see­land. Regio­nal war Liver­pool Brü­cken­kopf und Ver­tei­ler vor allem für den Irland-Verkehr. Die meis­ten Lini­en, die damals den Mer­sey Port anlie­fen, waren in ihrer gesam­ten Logis­tik auf Liver­pool aus­ge­rich­tet – und das ließ sich, gera­de unter dem Mit­te der 1990er flo­rie­ren­den Prin­zip „just in time“, nicht mal eben ändern.

Pro­test gegen den staat­lich for­cier­ten Ein­satz pri­va­ter Streikbrecher-Bataillone: „Mein Papa und ich – wir has­sen Streik­bre­cher!“
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Die Docker nutz­ten dies, um für die Zie­le ihres Streiks welt­weit um Soli­da­ri­tät zu wer­ben: Aus etli­chen Liver­poo­ler Streik­pos­ten vor den Toren der MDHC wur­den glo­ba­le fly­ing pickets – sie bereis­ten ande­re Län­der und Kon­ti­nen­te, rede­ten mit dor­ti­gen Kol­le­gen, refe­rier­ten auf Ver­an­stal­tun­gen, spra­chen mit Medi­en, sam­mel­ten Spen­den. Häu­fig hal­fen dabei loka­le Struk­tu­ren oder Kol­le­gen natio­na­ler Gewerk­schaf­ten oder auch der Inter­na­tio­na­len Transportarbeiter-Föderation (ITF) wäh­rend die Füh­run­gen sowohl der ITF als auch vie­ler Ein­zel­ge­werk­schaf­ten, wie in Deutsch­land der ÖTV, sich eben­so bedeckt hiel­ten wie die TGWU-Spitze.

Die MDHC muss öko­no­misch desta­bi­li­siert wer­den, wenn wir Erfolg haben wol­len“, beschrie­ben Her­bie Holl­er­head und Ter­ry Sou­thers, zwei nach Bre­men, Ham­burg und Ros­tock ent­sand­te fly­ing pickets, ihre Tak­tik. Wenn Schif­fe mit Ladung für Liver­pool in jedem vor­he­ri­gen Anlauf­ha­fen nur vier Stun­den län­ger lägen als vor­ge­se­hen, kämen schnell Ver­zö­ge­run­gen von einem Tag und mehr zustan­de – sum­ma­risch bedeu­te das Mil­lio­nen­ver­lus­te für Ree­der oder Char­te­rer. „Wir bau­en dar­auf, dass die die­sen Druck wei­ter­ge­ben an die MDHC.“

Aktio­nen in mehr als 100 Häfen

In Mont­re­al etwa besetz­ten fly­ing pickets für eini­ge Stun­den ein paar Krä­ne, loka­le Kol­le­gen soli­da­ri­sier­ten sich, Schif­fe für Liver­pool muss­ten lan­ge auf Abfer­ti­gung war­ten. Im US-Hafen Newark blo­ckier­ten sie Schif­fe der Container-Reederei ACL, ihre US-Kollegen nah­men ihr (dort gel­ten­des) Recht in Anspruch, das Über­schrei­ten einer picket line ver­wei­gern zu dür­fen – die Blo­cka­de währ­te fünf Tage. In Aus­tra­li­en wur­de gar eine Ree­de­rei mit Lini­en­dienst nach Liver­pool so kon­se­quent boy­kot­tiert, dass sie Kon­kurs anmel­den muss­te. ACL geriet zwi­schen­zeit­lich so stark unter Druck, dass die Akti­en­kur­se ein­bra­chen. Welt­wei­tes Auf­se­hen erreg­te auch der Fall der „Nep­tu­ne Jade“: Das Con­tai­ner­schiff6 vaga­bun­dier­te wegen fort­lau­fen­der Boy­kot­te mona­te­lang mit unlösch­ba­rer Ladung durch etli­che Häfen – eine gute Wer­bung dafür, was inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät errei­chen kann.

Ob Göte­borg oder Bre­mer­ha­ven, Yoko­ha­ma oder Kobe, Oak­land oder Van­cou­ver – in fast drei Dut­zend Län­dern und mehr als 100 Häfen fan­den Soli­da­ri­täts­ak­tio­nen für die strei­ken­den Docker statt. „Bei Hafen­ar­bei­tern aus aller Welt ist bekannt, dass auf die Liver­poo­ler Kol­le­gen immer Ver­lass war“, sag­te damals ein hie­si­ger ITF-Inspektor dem Autor und zitier­te einen Kol­le­gen aus Mexi­ko mit den Wor­ten: „Wir sind hier, weil die Liver­poo­ler uns auch unter­stützt haben. Dies alles geschieht nur wegen des wach­sen­den Neoliberalismus.“

Soli­da­ri­ty hand­shake“ nennt der Foto­graf die­ses Bild von einer Ver­an­stal­tung zuguns­ten der Liver­poo­ler Docker.
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Die eben­so ein­fa­che wie dras­ti­sche Hoff­nung, durch welt­wei­te Boy­kott­ak­tio­nen so viel Druck zu erzeu­gen, dass MDHC ein­len­ken muss­te, war ein Spiel auf Zeit: Jede Woche brauch­ten die Strei­ken­den und ihre Fami­li­en über die äußerst mage­ren eng­li­schen Sozi­al­leis­tun­gen hin­aus rund 35.000 Pfund Ster­ling, um wei­ter durch­hal­ten zu kön­nen – ein schier uner­mess­li­cher Druck, ein finan­zi­el­les und sozia­les Aben­teu­er. Welt­weit wur­den gespen­det, in Nord­deutsch­land war es übri­gens der Orts­ver­ein Ham­burg der IG Medi­en und eben nicht die eigent­lich zustän­di­ge ÖTV , der über­re­gio­nal Gel­der für die Liver­poo­ler Kol­le­gen sammelte.

Am Ende, so lässt es sich bilan­zie­ren, hat’s den­noch nicht gereicht. Als der Streik im Som­mer 1997 in sein drit­tes Jahr ging, wur­de es immer schwie­ri­ger, stän­dig das nöti­ge Geld auf­zu­brin­gen. Erschwert wur­de das mehr und mehr durch feh­len­de Unter­stüt­zung von Labour und den Gewerk­schafts­spit­zen im In- und Aus­land. Auf einer Mas­sen­ver­samm­lung der Hafen­ar­bei­ter am 27. Janu­ar 1998 emp­fah­len schließ­lich die Ver­trau­ens­leu­te zäh­ne­knir­schend, einen weni­ge Mona­te zuvor per Urab­stim­mung mit 213:97 Stim­men abge­lehn­ten Kom­pro­miss­vor­schlag der MDHC nun doch anzu­neh­men. Die­ses Mal votier­ten die Docker mit einem Ver­hält­nis von 3:1 für Annah­me – fast alle beka­men eine Abfin­dung, nur die 20 Torside-Kollegen nicht, die als „Urhe­ber“ des Streiks gal­ten. Die MDHC-Docker lie­ßen sie aber nicht leer aus­ge­hen, die Abfin­dun­gen wur­den ent­spre­chend geteilt. Maka­bre Fol­ge Blair­scher Finanz- und Arbeits­markt­po­li­tik (auch die war seit That­cher unver­än­dert): Mit ihrer Abfin­dung in Höhe von 28.000 Pfund (rund 84.000 D-Mark) gal­ten die nun offi­zi­ell arbeits­lo­sen Docker als „ver­mö­gend“ – und muss­ten des­halb eine lan­ge Arbeits­lo­sen­geld­sper­re hinnehmen.

IDC – die „Inter­na­tio­na­le der Hafenarbeiter“

Trotz sei­nes letzt­lich ent­täu­schen­den Aus­gangs hat der legen­dä­re Arbeits­kampf der Liver­poo­ler Hafen­ar­bei­ter gezeigt, was inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät bewir­ken kann: Aus der welt­wei­ten Unzu­frie­den­heit vie­ler Hafen­ar­bei­ter über die man­geln­de Unter­stüt­zung der Liver­poo­ler Kol­le­gen durch die vie­len Gewerk­schafts­spit­zen ent­stand im Jah­re 2000 der Inter­na­tio­nal Dock­wor­kers Coun­cil (IDC). Der Orga­ni­sa­ti­on gehö­ren heu­te mehr als 120.000 Hafen­ar­bei­ter in aller Welt an, und nach anfäng­li­cher Kon­kur­renz ver­ein­bar­ten IDC und ITF im Jah­re 2016 eine inzwi­schen eta­blier­te Zusam­men­ar­beit: Letzt­lich ein Beweis dafür, dass Ver­trau­en in die eige­ne Kraft auch Spal­tung über­win­den kann.

Der Rot­ter­da­mer Hafen­ar­bei­ter und ITF-Funktionär Jero­en Tous­saint schrieb7 nach dem Ende des Liver­poo­ler Streiks bilan­zie­rend: „Als die Gewerk­schafts­füh­run­gen sich hin­ter den Geset­zen von Mag­gie That­cher ver­steck­ten, haben die Liver­poo­ler selbst die Inter­na­tio­na­le der Hafen­ar­bei­ter auf­ge­baut. Sie haben ihren Kampf von Anfang an aus­ge­rich­tet auf die Zukunft der Hafen­ar­bei­ter und auf die Jugend. Ein Arbeits­platz ist nichts, was man ver­kau­fen kann. Ein Arbeits­platz ist etwas, was man von der vori­gen Gene­ra­ti­on bekommt und an die Jugend wei­ter­ge­ben muss. (…) Sie haben gezeigt, dass es kei­ne neue Regie­rung braucht, son­dern dass die Men­schen selbst imstan­de sind, ihre Zukunft und die Gesell­schaft zu ändern“.

 

# Eine ähn­li­che Ver­si­on die­ses Arti­kels ist bereits am 10. Janu­ar 2023 in der Tages­zei­tung „jun­ge Welt“ erschienen.
# WATERKANT dankt dem Liver­poo­ler Foto­gra­fen David Sin­clair, der uns kos­ten­los die Ver­wen­dung sei­ner Bil­der gestat­tet hat. Dave hat unter ande­rem den lan­gen Arbeits­kampf der Docker aus­führ­lich doku­men­tiert, sei­ne Bil­der kön­nen auf Flickr ange­schaut wer­den. – WATERKANT would like to thank Liver­pool pho­to­grapher David Sin­clair for allo­wing us to use his images free of char­ge. Among other things, Dave has docu­men­ted the long indus­tri­al dis­pu­te of the dockers in detail, his pic­tures are on Flickr.

Anmer­kun­gen:
1. „jun­ge Welt“ vom 14. Novem­ber 2022
2. Nur im erst 1967 neu­errich­te­ten, daher dem NDLS-Tarifkonzept nicht unter­wor­fe­nen Con­tai­ner­ha­fen Felix­sto­we wur­de damals weitergearbeitet.
3. Unter Anwen­dung dama­li­ger Wech­sel­kur­se wären das rund 12,4 Mil­lio­nen Euro für 1989 – und ca. 42,84 Mil­lio­nen Euro für 1994. Auch wenn es damals noch kei­nen Euro gab, der Ver­gleich daher ein biss­chen schief anmu­tet, ist dies viel­leicht trotz­dem eine Orientierungshilfe.
4. https://www.wsws.org/en/articles/1998/02/live-f14.html
5. mare – Die Zeit­schrift der Mee­re; Heft 12, Febr./März 1999
6. https://archive.iww.org/history/campaigns/neptunejade/
7. Water­kant, Heft 1 / 1998 (https://waterkant.info). Etli­che wei­te­re Arti­kel unse­rer Zeit­schrift zum Liver­poo­ler Docker-Streik waren Grund­la­ge wesent­li­cher Tei­le die­ses Beitrags.

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WATERKANT-Redaktion