Seit Monaten toben in Großbritannien heftigste Arbeitskämpfe, Hunderttausende aus vielen Branchen sind beteiligt – unter anderem auch Hafenarbeiter beispielsweise in Liverpool. Deren erfolgreicher Streik1 hat im In-und Ausland Erinnerungen geweckt an den legendären Arbeitskampf von rund 500 Liverpooler Dockern, der im Herbst 1995 begann und erst nach 853 Tagen (!) am 27. Januar 1998, heute vor 40 Jahren, beendet wurde. Die Zeitschrift WATERKANT war damals aktiv beteiligt an der breiten Solidaritätskampagne für die streikenden Docker und ihre Familien: Deshalb ist dieser Jahrestag Anlass für eine angemessene Erinnerung.
Um den seinerzeit weltweit Aufsehen erregenden Langzeit-Streik in seinen politischen Dimensionen begreifen zu können, ist eingangs ein kurzer Rückblick in die Ära nach dem Zweiten Weltkrieg erforderlich: Im Jahre 1947 schuf die damals von der Labour Partei gestellte britische Regierung mit dem National Dock Labour Scheme (NDLS) ein landesweit gültiges Tarifgefüge, das die jahrhundertelang gewohnte Tagelöhnerei in den Häfen beendete. Alle Hafenarbeiter bekamen feste Arbeitsverhältnisse in einer staatlichen Betriebsgesellschaft. Dieses System funktionierte mehr als 40 Jahre lang – doch dann kam Margaret Thatcher.
Die konservative Premierministerin war 1979 angetreten, die starke nationale Gewerkschaftsbewegung zu knebeln und zu zerschlagen. Das sollte dem britischen Kapital durch umfassende „Privatisierung“ öffentlicher Aufgaben neue inländische Märkte öffnen. Auf Thatchers schwarzer Liste stand unter anderem auch das Hafentarifkonzept NDLS – laut Regierung ein Anachronismus, der nicht in die konservative Strategie von Deregulierung und Flexibilisierung passte.
Thatchers brutale Methoden
1989 beantworteten die englischen Hafenarbeiter Thatchers Versuch, das NDLS zu zerschlagen, zunächst mit einem landesweiten, sechswöchigen Streik2. Vergeblich: Obwohl diese Auseinandersetzung in eine Phase heftiger innenpolitischer Konflikte wegen hoher Inflation und dem Abbau sozialer Leistungen fiel, scheiterte der Versuch. Etliche Gewerkschaften waren untereinander zerstritten, teils überangepasst; die Bergarbeiter-Union NUM hatte Thatcher wenige Jahre zuvor bereits mit brutalsten Methoden geschwächt. Zahlreiche angestammte gewerkschaftliche Rechte waren aufgehoben beziehungsweise deren Wahrnehmung – etwa Solidaritätsstreiks oder die so genannten flying pickets, die branchenübergreifende Unterstützung durch Streikposten anderer Betriebe – mit Strafen belegt worden. Die Hafenarbeiter mussten aufgeben, die NDLS-Gesellschaft wurde in lokale Einzelunternehmen aufgesplittet. Mehr als 9000 Beschäftigte wurden gefeuert und fanden nur teilweise wieder Jobs in den fortan (wieder) üblichen Tagelöhner-Bataillonen.
Nicht so in Liverpool. Am Mersey war man schon immer kampfstark gewesen. Hier waren Schiffe mit Fracht für Südafrikas Apartheidregime boykottiert oder nach dem Pinochet-Putsch chilenische Frachter blockiert worden, ebenso Transporte mit Giftmüll, der die Meeresumwelt gefährdete. „Solidarität“, so erklärte es später Docker Terry Southers mal dem Autor, „gibt‘s bei uns mit der Muttermilch“. Die Liverpooler Docker waren 1989 die letzten, die aus dem Streik an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten – aber sie waren auch die letzten, die als feste, ständig Beschäftigte übrigblieben. Für Liverpool entstand aus den Trümmern des NDLS die Mersey Docks and Harbour Company (MDHC) als Hafenbetriebsgesellschaft – und das recht erfolgreich: Der Umschlag nahm erheblich zu, die Gewinne des Hafens stiegen von 8,3 Millionen Pfund Sterling im Jahre 19893 auf erkleckliche 33,6 Millionen Pfund Sterling im Jahre 1994.
Den Liverpooler Dockern war aber klar, dass weder die Konservativen in London noch die heimischen Hafenmanager die ihnen zugefügte Niederlage auf Dauer hinnehmen würden. Prompt folgte wenige Jahre später der erste Versuch, auch am Mersey Tagelöhnerverhältnisse durchzusetzen: Im August 1995 ließ die MDHC bei ihrer Tochterfirma Torside Ltd. versuchshalber 20 von 80 Beschäftigten entlassen, um sie durch „unständige“ Arbeiter zu ersetzen, die nur noch je nach Umschlagsmengen und Arbeitskräftebedarf sollten abgerufen werden können. Den folgenden Streik beantwortete Torside zwar zunächst mit Konkursdrohung und wollte alle 80 feuern, knickte dann jedoch ein und gab nach.
Aber nur zum Schein. Es begann ein Kleinkrieg um Überstundenbezahlung und andere Provokationen. Als einige Arbeiter Mehrarbeit ohne Bezahlung verweigerten, flogen sie raus; die übrigen solidarisierten sich und traten in den Streik. Dieses Mal erklärte Torside den Ausstand unter Hinweis auf Thatchers Gesetze für illegal, kündigte allen – und erntete einen Streik der kompletten MDHC-Belegschaft. Am 28. September 1995 wurden daraufhin alle 500 gefeuert. Es begann ein Arbeitskampf von bislang ungekannter Dauer und Schärfe – auch, weil Hafenarbeit traditionell „in der Familie“ lag, also vom Opa an den Vater und den Sohn „weitergegeben“ wurde. Dies machte den Streik zu einem Ereignis generationenübergreifenden Zusammenhalts.
Schnell wurde klar, warum die MDHC sich stark genug gefühlt hatte, diesen Schritt zu wagen: In den langen und teils heftigen Arbeitskämpfen vergangener Jahre hatten sich etliche clevere Geschäftsleute ein lukratives, neues Betätigungsfeld gesucht. Sie schufen professionelle Streikbrecherfirmen, deren Personal sie meist aus entlassenen Zeitsoldaten und ehemaligen Beschäftigten anderer Sicherheitsbereiche rekrutierten. Prompt übernahm Ende September 1995 die damals bereits landesweit berüchtigte Firma „Drake International“ aus Kent die Arbeit im Liverpooler Hafen – aber nicht ohne Probleme: Den Streikbrechern fehlte die fachliche Qualifikation, manche Kapitäne verweigerten wegen unsachgemäßen Stauens von Ladung die Zusammenarbeit und etliche Seeversicherer schraubten ihre Prämien in die Höhe.
Streikbrecher gefährden Sicherheit im Hafen
Für Reeder und Charterer wurde das Anlaufen von Liverpool zum wirtschaftlichen Risiko, denn ihre so erhöhten Kosten konnten sie unmöglich auf die Frachtraten aufschlagen, dafür war die Konkurrenz auf den Weltmeeren zu scharf. Die Folge: MDHC musste die Preise drücken, also Kosten sparen, selbst den Streikbrechern wurden soziale Daumenschrauben angelegt. Vor dem Streik lagen die durchschnittlichen Stundenlöhne der MDHC-Arbeiter bei neun Pfund Sterling. Die erste Mannschaft von Drake wurde mit vier Pfund die Stunde bezahlt. Das sorgte selbst in der unqualifizierten Kämpfertruppe für Unzufriedenheit, einige flogen raus, die Ersatzleute aber bekamen auf einmal nur noch 2,75 Pfund Sterling. MDHC hatte so zwar konkurrenzlos niedrige Hafenpreise, die Sicherheitsrisiken aber nahmen zu – und sprachen sich international herum.
Im Vergleich dazu festigte sich die Streikfront beachtlich: Die rund 500 geschassten MDHC-Arbeiter erfuhren breiteste Unterstützung – nicht nur in Liverpool, das schon immer eine Gewerkschaftshochburg gewesen war, sondern auch im ganzen Land und alsbald sogar international. In Liverpool und Umgebung flossen von Belegschaften anderer Betriebe und aus nahezu allen Teilen der Bevölkerung Spenden in den Streikfonds – selbst manche Unternehmer zahlten ein, wenn nicht aus lokaler Solidarität, dann aus Sorge, eine Niederlage der Docker könne die Region als Ganzes und damit ihre eigenen Umsätze schwächen.
Die Unterstützung nahm vielfältige und viel beachtete Formen an: Vor lokalen Fußballarenen wurden Spenden gesammelt, in Kaufhäusern, Kneipen oder Kinos standen Spendenbüchsen. Insbesondere die teilweise spektakulären Aktionen der „Women of the Waterfront“ (WoW) erregten international Aufsehen: Bereits kurz nach Streikbeginn hatten sich die Frauen der Hafenarbeiter organisiert und mobilisierten selbsttätig zu stark besuchten Veranstaltungen. Sie reihten sich ein in die picket lines, die Streikpostenfronten vor den Hafenzufahrten, sie blockierten aktiv zentrale Straßen – teilweise provokativ tanzend und singend – und „überredeten“ Lastwagenfahrer, Touren mit Fracht vom und zum Hafen zu verweigern. Ihren Ehemännern gelang es dank solcher Ablenkungen immer wieder, aufs Terminalgelände vorzudringen, vorübergehend Containerbrücken zu besetzen und so den Hafenbetrieb temporär lahmzulegen.
Diese und andere Formen des Widerstands hatten Folgen: Vor den Hafenzufahrten gab es Auseinandersetzungen, wenn örtliche Polizeikräfte die Streikbrecher gewaltsam durch die picket lines eskortierten, häufig auch unter brutalem Knüppeleinsatz. Das sorgte natürlich für Empörung in der Stadt, dort erinnerte man sich gut an die Zeiten vor dem NDLS, als Tagelohnhafenarbeit die Lebenshaltung geprägt hatte: Nur wenn Schiffe im Hafen lagen, hatte es damals Arbeit, Lohn und damit Nahrung und Kleidung gegeben. Jetzt sollte der Tagelohn zurückkehren – das galt es zu verhindern.
Rabiate Polizeieinsätze
Mit jedem Polizeieinsatz verstärkte sich einerseits die Solidarität und nahm immer kreativere Formen an; andererseits verschärften Staatsgewalt und Polizei im Laufe des offensichtlich nicht enden wollenden Arbeitskampfes ihren Druck und ihre Vorgehensweise. Letzteres äußerte sich etwa im Herausgreifen einzelner Streikposten, zusehends auch in Festnahmen und Aburteilungen, manchen wurden Bußgelder oder Kautionen auferlegt, die es ihnen verboten, sich erneut in die picket line einzureihen. Auch Frauen der WoW-Allianz oder solidarische Demonstranten waren betroffen von den polizeilichen Übergriffen. Übrigens soll der Polizeischutz für Streikbrecher die Staatskasse insgesamt vier Millionen Pfund gekostet haben.
Problematisch war die Rolle der Gewerkschaft: Die Führung der in den Jahren zuvor bereits von heftigen inneren Kämpfen zerrissenen Transport and General Workers’ Union (TGWU) ging auf Distanz zu den Liverpooler Dockern. Das linke Portal World Socialist Web Site beispielsweise formulierte4, die Gewerkschaftsspitze habe den „Kampf der Liverpooler Hafenarbeiter erwürgt“. TGWU-Chef Bill Morris wurde gar das Zitat nachgesagt5, man könne „für eine Handvoll Leute (…) doch nicht die Existenz der Gewerkschaft aufs Spiel setzen, das müssten die Docker doch verstehen“: Die TGWU-Oberen fürchteten bei Unterstützung dieses formal illegalen Arbeitskampfes hohe Entschädigungsforderungen und finanzielle Strafen bis hin zur Beschlagnahme des Gewerkschaftsvermögens. Viele Docker verstanden es nicht.
Es war – damals wie in heutiger Nachschau – ein kompliziertes Verhältnis. Fast alle Streikenden waren wie selbstverständlich TGWU-Mitglieder und erhielten von ihresgleichen breite Unterstützung. Zwar hatte die TGWU-Führung über das lokale Mersey Port Shop Stewards Committee, nach hiesiger Diktion so etwas wie der Vertrauensleutekörper, eine gewisse Kontrolle über die Streikenden, versuchte oft auch Aktivitäten zu bremsen. Letztlich aber konnte sie die Solidarität, die aus den lokalen Sektionen der eigenen wie anderer Gewerkschaften und aus den Betrieben erwuchs, nicht stoppen. Neben heftiger Kritik an der Sozialpartnerschaft zwischen TGWU-Spitze und MDHC standen Lob und Jubel über den breiten Rückhalt aus den Basisstrukturen der Gewerkschaft.
Internationale Solidarität
Die kreative Solidarität blühte derweil in fast allen zivilgesellschaftlichen Bereichen. Regisseur Ken Loach widmete den Dockern mit „Flickering Flame“ einen landauf, landab gezeigten Dokumentarfilm. Liverpools Starfußballer Robin Fowler zeigte bei einem Spiel ein T-Shirt, das die Docker unterstützte. Als die UEFA ihn mit 900 Pfund Strafe belegte, gab er einen deutlich höheren Betrag an den Dockers’ Fighting Fund. Sänger Billy Bragg solidarisierte sich mit den Dockern: „Sie haben sich geweigert, den Streik zu brechen und wurden entlassen. Das verletzt das grundlegende Recht der Arbeiter auf der ganzen Welt, sich gewerkschaftlich zu organisieren.“ Es gab Unterstützungsfestivals, deren Besucher reichhaltig spendeten. Namhafte Bands wie Oasis, Chumbawamba oder Primal Scream verzichteten auf Gagen und gaben Plattentantiemen für die Streikenden. Auch die ökosoziale Raver-Bewegung Reclaim the Streets solidarisierte sich und blockierte am zweiten Jahrestag des Streiks 1997 mit mehreren hundert Aktivisten und 70 Dockern den MDHC-Hafen Sheerness.
Auch viele lokale Sektionen der Labour-Partei organisierten oder gaben Spenden und Grußbotschaften. Deren Parteiführung unter Tony Blair indes hatte sich von Anfang an auffällig zurückgehalten – und das setzte sich fort, als Blair im Mai 1997 den konservativen Thatcher-Nachfolger John Major als Premierminister ablöste. Viele Docker hatten Hoffnung in Blair und einen Regierungswechsel gesetzt – sie wurden bitter enttäuscht. Weder vor noch nach der Amtsübernahme hielt „Tony Thatcher“, wie viele Docker ihn alsbald sarkastisch nannten, es für nötig, mit den Streikenden zu reden, geschweige denn, für sie zu vermitteln. So wurde Enttäuschung alsbald zu Wut und Empörung: Schließlich war die Regierung damals größter Aktionär der MDHC und hätte somit alle Möglichkeiten der Einflussnahme gehabt. Statt dessen gab Blair den Dockern die Empfehlung, die von der MDHC angebotene Abfindung zu kassieren und die Arbeit im Hafen den neuen Leuten, sprich: den Streikbrechern zu überlassen. Den TGWU-Chef Morris forderte er gar auf4, den peinlichen Streit schnell zu beenden – auf Kosten der Docker: Alle Härteleistungen wurden eingestellt.
Wiederholt versuchte die MDHC, teils auch mit Unterstützung der TGWU-Spitze, die Streikfront mit Abfindungsangeboten aufzubrechen; immer wieder liefen diese Versuche ins Leere, obwohl vielen Hafenarbeiterfamilien das Wasser bis zum Hals stand. Viele mussten sich drastisch einschränken, oft gerieten auch ihre Hypotheken ins Wanken, weil Banken sich treu auf die Seite der MDHC und der Regierung schlugen und härtere Bedingungen diktierten.
Globale „flying pickets“
In ihrer oft verzweifelten Situation setzten die Liverpooler Hafenarbeiter verstärkt auf internationale Solidarität – und das mit beachtlichem Erfolg. „Das System mit den Mitteln des Systems schlagen“, lautete ihre Devise, und das ging so: Liverpool war damals Zielhafen vieler Reedereien aus Kanada und den USA, von Häfen der Atlantikküste oder der fünf Großen Seen. Hinzu kamen Verbindungen nach Skandinavien, ins Mittelmeer, nach Australien oder Neuseeland. Regional war Liverpool Brückenkopf und Verteiler vor allem für den Irland-Verkehr. Die meisten Linien, die damals den Mersey Port anliefen, waren in ihrer gesamten Logistik auf Liverpool ausgerichtet – und das ließ sich, gerade unter dem Mitte der 1990er florierenden Prinzip „just in time“, nicht mal eben ändern.
Die Docker nutzten dies, um für die Ziele ihres Streiks weltweit um Solidarität zu werben: Aus etlichen Liverpooler Streikposten vor den Toren der MDHC wurden globale flying pickets – sie bereisten andere Länder und Kontinente, redeten mit dortigen Kollegen, referierten auf Veranstaltungen, sprachen mit Medien, sammelten Spenden. Häufig halfen dabei lokale Strukturen oder Kollegen nationaler Gewerkschaften oder auch der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) – während die Führungen sowohl der ITF als auch vieler Einzelgewerkschaften, wie in Deutschland der ÖTV, sich ebenso bedeckt hielten wie die TGWU-Spitze.
„Die MDHC muss ökonomisch destabilisiert werden, wenn wir Erfolg haben wollen“, beschrieben Herbie Hollerhead und Terry Southers, zwei nach Bremen, Hamburg und Rostock entsandte flying pickets, ihre Taktik. Wenn Schiffe mit Ladung für Liverpool in jedem vorherigen Anlaufhafen nur vier Stunden länger lägen als vorgesehen, kämen schnell Verzögerungen von einem Tag und mehr zustande – summarisch bedeute das Millionenverluste für Reeder oder Charterer. „Wir bauen darauf, dass die diesen Druck weitergeben an die MDHC.“
Aktionen in mehr als 100 Häfen
In Montreal etwa besetzten flying pickets für einige Stunden ein paar Kräne, lokale Kollegen solidarisierten sich, Schiffe für Liverpool mussten lange auf Abfertigung warten. Im US-Hafen Newark blockierten sie Schiffe der Container-Reederei ACL, ihre US-Kollegen nahmen ihr (dort geltendes) Recht in Anspruch, das Überschreiten einer picket line verweigern zu dürfen – die Blockade währte fünf Tage. In Australien wurde gar eine Reederei mit Liniendienst nach Liverpool so konsequent boykottiert, dass sie Konkurs anmelden musste. ACL geriet zwischenzeitlich so stark unter Druck, dass die Aktienkurse einbrachen. Weltweites Aufsehen erregte auch der Fall der „Neptune Jade“: Das Containerschiff6 vagabundierte wegen fortlaufender Boykotte monatelang mit unlöschbarer Ladung durch etliche Häfen – eine gute Werbung dafür, was internationale Solidarität erreichen kann.
Ob Göteborg oder Bremerhaven, Yokohama oder Kobe, Oakland oder Vancouver – in fast drei Dutzend Ländern und mehr als 100 Häfen fanden Solidaritätsaktionen für die streikenden Docker statt. „Bei Hafenarbeitern aus aller Welt ist bekannt, dass auf die Liverpooler Kollegen immer Verlass war“, sagte damals ein hiesiger ITF-Inspektor dem Autor und zitierte einen Kollegen aus Mexiko mit den Worten: „Wir sind hier, weil die Liverpooler uns auch unterstützt haben. Dies alles geschieht nur wegen des wachsenden Neoliberalismus.“
Die ebenso einfache wie drastische Hoffnung, durch weltweite Boykottaktionen so viel Druck zu erzeugen, dass MDHC einlenken musste, war ein Spiel auf Zeit: Jede Woche brauchten die Streikenden und ihre Familien über die äußerst mageren englischen Sozialleistungen hinaus rund 35.000 Pfund Sterling, um weiter durchhalten zu können – ein schier unermesslicher Druck, ein finanzielles und soziales Abenteuer. Weltweit wurden gespendet, in Norddeutschland war es übrigens der Ortsverein Hamburg der IG Medien – und eben nicht die eigentlich zuständige ÖTV –, der überregional Gelder für die Liverpooler Kollegen sammelte.
Am Ende, so lässt es sich bilanzieren, hat’s dennoch nicht gereicht. Als der Streik im Sommer 1997 in sein drittes Jahr ging, wurde es immer schwieriger, ständig das nötige Geld aufzubringen. Erschwert wurde das mehr und mehr durch fehlende Unterstützung von Labour und den Gewerkschaftsspitzen im In- und Ausland. Auf einer Massenversammlung der Hafenarbeiter am 27. Januar 1998 empfahlen schließlich die Vertrauensleute zähneknirschend, einen wenige Monate zuvor per Urabstimmung mit 213:97 Stimmen abgelehnten Kompromissvorschlag der MDHC nun doch anzunehmen. Dieses Mal votierten die Docker mit einem Verhältnis von 3:1 für Annahme – fast alle bekamen eine Abfindung, nur die 20 Torside-Kollegen nicht, die als „Urheber“ des Streiks galten. Die MDHC-Docker ließen sie aber nicht leer ausgehen, die Abfindungen wurden entsprechend geteilt. Makabre Folge Blairscher Finanz- und Arbeitsmarktpolitik (auch die war seit Thatcher unverändert): Mit ihrer Abfindung in Höhe von 28.000 Pfund (rund 84.000 D-Mark) galten die nun offiziell arbeitslosen Docker als „vermögend“ – und mussten deshalb eine lange Arbeitslosengeldsperre hinnehmen.
IDC – die „Internationale der Hafenarbeiter“
Trotz seines letztlich enttäuschenden Ausgangs hat der legendäre Arbeitskampf der Liverpooler Hafenarbeiter gezeigt, was internationale Solidarität bewirken kann: Aus der weltweiten Unzufriedenheit vieler Hafenarbeiter über die mangelnde Unterstützung der Liverpooler Kollegen durch die vielen Gewerkschaftsspitzen entstand im Jahre 2000 der International Dockworkers Council (IDC). Der Organisation gehören heute mehr als 120.000 Hafenarbeiter in aller Welt an, und nach anfänglicher Konkurrenz vereinbarten IDC und ITF im Jahre 2016 eine inzwischen etablierte Zusammenarbeit: Letztlich ein Beweis dafür, dass Vertrauen in die eigene Kraft auch Spaltung überwinden kann.
Der Rotterdamer Hafenarbeiter und ITF-Funktionär Jeroen Toussaint schrieb7 nach dem Ende des Liverpooler Streiks bilanzierend: „Als die Gewerkschaftsführungen sich hinter den Gesetzen von Maggie Thatcher versteckten, haben die Liverpooler selbst die Internationale der Hafenarbeiter aufgebaut. Sie haben ihren Kampf von Anfang an ausgerichtet auf die Zukunft der Hafenarbeiter und auf die Jugend. Ein Arbeitsplatz ist nichts, was man verkaufen kann. Ein Arbeitsplatz ist etwas, was man von der vorigen Generation bekommt und an die Jugend weitergeben muss. (…) Sie haben gezeigt, dass es keine neue Regierung braucht, sondern dass die Menschen selbst imstande sind, ihre Zukunft und die Gesellschaft zu ändern“.
# Eine ähnliche Version dieses Artikels ist bereits am 10. Januar 2023 in der Tageszeitung „junge Welt“ erschienen.
# WATERKANT dankt dem Liverpooler Fotografen David Sinclair, der uns kostenlos die Verwendung seiner Bilder gestattet hat. Dave hat unter anderem den langen Arbeitskampf der Docker ausführlich dokumentiert, seine Bilder können auf Flickr angeschaut werden. – WATERKANT would like to thank Liverpool photographer David Sinclair for allowing us to use his images free of charge. Among other things, Dave has documented the long industrial dispute of the dockers in detail, his pictures are on Flickr.
Anmerkungen:
1. „junge Welt“ vom 14. November 2022
2. Nur im erst 1967 neuerrichteten, daher dem NDLS-Tarifkonzept nicht unterworfenen Containerhafen Felixstowe wurde damals weitergearbeitet.
3. Unter Anwendung damaliger Wechselkurse wären das rund 12,4 Millionen Euro für 1989 – und ca. 42,84 Millionen Euro für 1994. Auch wenn es damals noch keinen Euro gab, der Vergleich daher ein bisschen schief anmutet, ist dies vielleicht trotzdem eine Orientierungshilfe.
4. https://www.wsws.org/en/articles/1998/02/live-f14.html
5. mare – Die Zeitschrift der Meere; Heft 12, Febr./März 1999
6. https://archive.iww.org/history/campaigns/neptunejade/
7. Waterkant, Heft 1 / 1998 (https://waterkant.info). Etliche weitere Artikel unserer Zeitschrift zum Liverpooler Docker-Streik waren Grundlage wesentlicher Teile dieses Beitrags.