Die Nordsee: Meer oder Industriepark?

Es sind – vor­sich­tig for­mu­liert – ambi­tio­nier­te Zie­le, die die Regie­rungs­chefs von neun Staa­ten der Nord­at­lan­tik­re­gi­on bei ihrer Nordsee-Offshore-Konferenz am Mon­tag im bel­gi­schen Ost­ende beschlos­sen haben: In Anwe­sen­heit von EU-Kommissionschefin Ursu­la von der Ley­en (CDU) unter­zeich­ne­ten sie eine Erklä­rung, die das Meer vor unse­rer Haus­tür kur­zer­hand zum „grü­nen Kraft­werk Euro­pas“ erklärt. 

Betei­ligt waren die Ver­tre­ter der Nordsee-Anrainer Bel­gi­en, Däne­mark, Deutsch­land, Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, der Nie­der­lan­de und Nor­we­gen sowie zusätz­lich von Irland und Luxem­burg: Es waren fast die­sel­ben Staa­ten, die noch vor 30-40 Jah­ren auf meh­re­ren Inter­na­tio­na­len Nordseeschutz-Konferenzen (INK) um Mög­lich­kei­ten gerun­gen hat­ten, das Meer ange­sichts schwers­ter öko­lo­gi­scher Schä­den zu sanie­ren und zu schüt­zen, ohne dabei die eige­nen Nut­zungs­in­ter­es­sen aus dem Auge zu ver­lie­ren. Jetzt indes scheint die Scholz‘sche „Zei­ten­wen­de“ im nord­eu­ro­päi­schen Maß­stab durch­zu­schla­gen – man beschließt nicht ein­fach nur eine aus­ufern­de Indus­tria­li­sie­rung des Mee­res, son­dern unter­füt­tert das zugleich durch Begleit­maß­nah­men, die dem geplan­ten Pro­zess alle Hin­der­nis­se aus dem Weg räu­men sollen.

Von „mas­si­ven Inves­ti­tio­nen in Infra­struk­tur sowohl an Land als auch auf See“ ist da die Rede, ohne zu sagen, wer das bezah­len soll. Man kön­ne „nicht jah­re­lang auf Geneh­mi­gungs­pro­zes­se war­ten“, wird die Aus­he­be­lung gel­ten­der Rech­te ange­kün­digt. Und unter dem Eti­kett, die „Sicher­heit der Infra­struk­tur auf See und unter Was­ser zu erhö­hen“, wird die Mili­ta­ri­sie­rung des Mee­res und sei­ner Küs­ten ins Auge gefasst, näm­lich in Koope­ra­ti­on von EU und NATO. Klar, auch der Anspruch, die „gesun­den und robus­ten Mee­res­öko­sys­te­me für künf­ti­ge Gene­ra­tio­nen“ bewah­ren zu wol­len, wird erwähnt – wie das unter den übri­gen Vor­zei­chen funk­tio­nie­ren soll, bleibt offen.

Mehr Strom als benötigt?

Bis 2050 sol­len Offshore-Windkraftanlagen mit einer Gesamt­leis­tung von 300 Giga­watt errich­tet wer­den. Aktu­ell sind im deut­schen See­ge­biet knapp acht Giga­watt Leis­tung instal­liert, mit denen 2022 rund 24,7 Tera­watt­stun­den Strom erzeugt wor­den sind. Zwar schwan­ken sol­che Rela­tio­nen wet­ter­be­dingt von Jahr zu Jahr, aber grob lässt sich ohne Berück­sich­ti­gung tech­ni­scher Ent­wick­lung abschät­zen, dass eine Leis­tung von 300 GW auf eine Strom­pro­duk­ti­on im Bereich von 900 TWh hin­aus­läuft. Davon könn­ten 300 Mil­lio­nen Haus­hal­te mit Ener­gie ver­sorgt wer­den, zitier­te dpa Bel­gi­ens Regie­rungs­chef Alex­an­der De Croo – laut Euro­stat hat­te die EU aller­dings Ende 2021 nur knapp 197 Mil­lio­nen Haus­hal­te. „Ener­gie­spa­ren“ buch­sta­biert sich anders.

Der Kata­log der aus dem Ostende-Beschluss sich erge­ben­den offe­nen Fra­gen ist end­los. Schon war­nen Hand­werk und Indus­trie, es gäbe für sol­che Plä­ne gar nicht die Fer­ti­gungs­ka­pa­zi­tä­ten. Sie zu errich­ten, sei ohne mas­si­ve staat­li­che För­de­rung – sprich: Steu­er­gel­der – unmög­lich. Nicht nur die Roh­stoff­fra­ge sei unge­klärt, auch die Ver­füg­bar­keit von Infra- und Supra­struk­tur wie Häfen, Spe­zi­al­schif­fe oder Netz­aus­bau. Jüngs­te War­nun­gen etwa der Klas­si­fi­ka­ti­ons­ge­sell­schaft DNV vor raum­pla­ne­ri­schen Kon­flik­ten schei­nen die Regie­rungs­chefs nicht zu ken­nen oder igno­rie­ren zu wol­len. Das­sel­be gilt für Mah­nun­gen etwa des Helmholtz-Zentrums Here­on in Geest­hacht, das zur Jah­res­wen­de vor einem mas­si­ven Aus­bau von Offshore-Windkraft sorg­fäl­ti­ge Risi­ko­be­wer­tun­gen ein­for­der­te. Bei­spiels­wei­se sei­en Fol­gen etwa für die Ent­wick­lung von Fisch­be­stän­den eben­so unge­nü­gend erforscht wie die Aus­wir­kun­gen von Luft­ver­wir­be­lun­gen durch die Roto­ren auf die Mee­res­strö­mun­gen und dar­aus sich erge­ben­de Klimaveränderungen.

Wen’s inter­es­siert: Infor­ma­tio­nen zur ers­ten INK von 1984
und der oppo­si­tio­nel­len „Akti­ons­kon­fe­renz Nord­see“ (AKN) sind hier zu fin­den.

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WATERKANT-Redaktion