Seit Mittwoch vergangener Woche blockiert der Containerfrachter „Ever Given“ den Suez-Kanal. Ohne an dieser Stelle das hektische Bemühen um die Wiederherstellung der Durchfahrt zwischen Mittelmeer und Rotem Meer stündlich oder täglich verfolgen zu wollen: Der Zwischenfall, der beidseitig der Kanaleinfahrten mehrere hundert Frachtschiffe zum Stillstand zwingt, ist ein geeigneter Anlass, der Größenwahn der Schifffahrtsbranche erneut zu problematisieren.
Die „Ever Given“ der taiwanesischen Evergreen-Reederei – gemanagt von dem Hamburger Unternehmen Bernhard Schulte – ist in Norddeutschland nicht unbekannt: 2019 streifte der unter Panama-Billigflagge fahrende Containerriese vor Blankenese eine Hafenfähre und beschädigte sie schwer; laut damaliger Untersuchung hatte der indische Kapitän Navigationsempfehlungen der Lotsen an Bord ignoriert.
Das 400 Meter lange und 59 Meter breite Schiff – Baujahr 2018, Kapazität 20.388 TEU – ist nördlich von Suez von seinem Kurs abgekommen und blockiert den Kanal in voller Breite. Dem globalen Handel droht ein Chaos – nicht nur wegen zusammenbrechender Produktions- und Lieferketten infolge ausbleibender Fracht, sondern auch durch den Ansturm von Schiffen und Ladung auf die Häfen nach Freigabe des Kanals.
Das führt zu einer schon seit langem diskutierten Frage: Wie sinnvoll ist es, das insbesondere in der Containerschifffahrt seit Jahren zu beobachtende Größenwachstum ungebrochen und unbeeindruckt fortzusetzen? Vor rund 15 Jahren noch hatte die Prognos AG in einem ihrer Gutachten gewarnt, ab einer Kapazität von 10.000 TEU seien „Restriktionen“ bezüglich Wirtschaftlichkeit, Containerhandling und -stabilität, Sicherheit und Hafenkapazität zu erwarten. Tatsächlich aber nimmt die Größe der Schiffe nahezu unaufhaltsam zu: Aktuell ist die südkoreanische Reederei HMM Weltrekordhalter, ihre „HMM Algeciras“ und deren elf Schwesterschiffe sind 400 Meter lang und 61 Meter breit und haben eine Kapazität von 23.964 TEU. Seit 2019 plant die norwegisch-deutsche Klassifikationsgesellschaft DNV zusammen mit Chinas Hudong-Zhonghua Werft einen Mega-Carrier, der 432,5 Meter lang und 63,3 Meter breit werden und 25.600 TEU tragen können soll.
Umstrittener Wachstums-Wahn
Diese Größenentwicklung hat Folgen, die über die aktuelle „Suez-Krise“ weit hinaus reichen. Einerseits herrscht vielfach Unmut darüber, dass Häfen und ihre Zufahrten auf Steuerzahlerkosten immer weiter ausgebaut werden – nur, weil die Reedereien es verlangten und man ja nicht abgeschnitten werden wolle. Andererseits mahnen aber auch in der Schifffahrt selbst zunehmend lauter werdende Stimmen ein Ende des Größenwachstums an – aus nautischen oder wirtschaftlichen Gründen.
Die Schifffahrt hat die Corona-Pandemie bislang ziemlich gut überstanden: Nach einer markanten Delle Anfang 2020 geht es deutlich aufwärts. Die Zahl der ungenutzt aufliegenden Schiffe sinkt, die Neubaubestellungen nehmen zu, die Transportkapazität etwa im Containersektor wächst drastisch schneller als die Zahl der Schiffe: 2013 konnte die globale Containerflotte mit rund 4800 Schiffen etwa 16 Millionen TEU befördern. Aktuell sind knapp 6200 Schiffe in Dienst – mit einer Kapazität von nahezu 24,5 Millionen TEU. Und wenige Tage vor der „Ever-Given“-Havarie meldete der Branchendienst HANSA, weltweit stünden derzeit 376 Containerschiffe in den Orderbüchern der Werften, ihre Gesamtkapazität von 3,4 Millionen TEU stelle einen neuen Rekord dar.
Die wirtschaftlichen Folgen mögen angesichts steigender Frachtraten für die Reeder positiv sein – Spediteure und Industrie sehen das vielleicht anders, denn sie zahlen dafür. Aber es gibt auch andere Folgen: Nautisch wird es schwieriger, solche Riesen zu manövrieren, der Fall der „MSC Zoe“ hat es deutlich gezeigt. Aktuelle Richtlinien gelten für Schiffe bis 300 Metern Länge, nicht für heutige Riesen. Jüngst erst warnten Versicherer vor Mängeln bei der Ladungssicherung: Seit November 2020 seien allein im Pazifik-Verkehr mehr als 3000 Container über Bord gegangen. Und schon 2016 mahnte der Goslarer Verkehrsgerichtstag Sicherheitsmängel bei den Megaschiffen an. Die Allianz-Versicherung übrigens weist darauf hin, dass in den vergangenen Jahren ein Drittel der Unfälle im Suez-Kanal durch große Containerschiffe ausgelöst worden sei.
Dieser Beitrag erscheint in ähnlicher Form heute auch in der Tageszeitung „junge Welt“.