Seit Jahren warnen Politik, Verwaltung sowie viele Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft in unterschiedlichen Tonlagen und wechselnder Lautstärke, Deutschlands maritimer Wirtschaft drohe ein massives Nachwuchsproblem. Aber alle Rufe und Forderungen, daran etwas zu ändern, verhallen bislang erfolglos: Ende 2020 meldete die „Berufsbildungsstelle Seeschifffahrt“ (BBS) mit nur 315 bestehenden Ausbildungsverhältnissen den niedrigsten Stand der vergangenen 20 Jahre.
Der nachfolgende Beitrag ist entstanden
im Auftrag der Tageszeitung „junge Welt“
als Teil einer Beilage „Ausbildung“
und dort in einer geringfügig kürzeren Version am 28. Juli 2021 erschienen.
Eigentlich ist es ganz einfach: Seeleute aller Qualifikationsstufen – vom Schiffsmechaniker bis zum nautischen oder technischen Offizier – werden nicht nur an Bord von Schiffen benötigt, sondern wegen ihrer spezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten auch an Land: in der Wasserstraßenverwaltung beispielsweise, beim Management von Schleusen, Kanälen und Häfen; bei den Werften und ihren unterschiedlichen Zulieferern; in den Büros von Reedereien, Transport- oder Umschlagsunternehmen ebenso wie in der Finanz- und Versicherungswelt, soweit sie mit Schifffahrtsfragen befasst ist; im Umweltschutz- oder Sicherheitsbereich, in der Forschung und vielen weiteren Sektoren. Die „maritime Wirtschaft“ ist ein Netzwerk, dessen Fäden nahezu überall zu finden sind, das aber – wie in anderen Bereichen auch – ohne qualifiziertes Personal nicht funktioniert.
So weit, so klar. Aber wo und wie auch immer in der maritimen Wirtschaft gearbeitet wird: Es ist meistens unabdingbar, mindestens aber sinnvoll, dass die Beschäftigten Erfahrung aus der praktischen Seefahrt mitbringen. Sie sollten also nicht nur als Seeleute ausgebildet sein, sondern auch persönlich eine mehrjährige „Fahrenszeit“ an Bord eines Schiffes hinter sich haben. Sie benötigen theoretisches Wissen ebenso wie sie praktische Erfahrungen an Bord von Schiffen, auf den Meeren und in den Häfen der Welt sammeln und erlernen müssen. Und dafür brauchen sie Reeder und Schiffseigner, die ihnen die Möglichkeiten dazu bieten – und die ihnen nach mehrjähriger Ausbildung auch Gelegenheit geben, ihr erlerntes Wissen in der Praxis zu erproben.
Aber eben daran hapert es: Während die Webseite des Verbands Deutscher Reeder (VDR) aktuell insgesamt 136 „ordentliche Mitglieder“ anzeigt, zählte die BBS zum Jahresende 2020 ganze 45 „aktive Ausbildungsbetriebe mit Sitz in Deutschland“, davon elf aus dem Bereich des Öffentlichen Dienstes (beispielsweise die Wasserstraßen- und Schifffahrtsämter). Unter den verbleibenden 34 Betrieben dürften zudem einige sein, die nicht (mehr) VDR-Mitglied sind, denn es gab ja in den vergangenen Jahren mehrere Austritte aus dem Verband – unter anderem wegen der Kritik, im VDR sei „ein gemeinsames Interesse“ an der „Beschäftigung und Ausbildung von deutschen Seeleuten verlorengegangen“. Bilanzierend lässt sich somit feststellen, dass weniger als ein Viertel der (organisierten) deutschen Reeder aktive Nachwuchsförderung durch Ausbildung betreibt – obwohl der Staat ihnen nach wie vor millionenschwere Unterstützung aus Steuergeldern gewährt, diese im vergangenen Frühjahr sogar um mehrere Jahre verlängert hat.
Die Tatsache, dass die deutsche Handelsflotte seit einigen Jahren drastisch schrumpft, ist definitiv nicht verantwortlich für das mangelnde Ausbildungsinteresse der Arbeitgeber. Ende Juni dieses Jahres zählte die deutsche Handelsflotte 1781 Schiffe, davon 284 unter deutscher und 1497 unter fremder Flagge. Ende 2011 hatte die Flotte mit 3784 Schiffen einen Höchststand erreicht, damals führten 530 Schiffe die Bundesflagge am Heck. Aber während aktuell etwas mehr als 300 Ausbildungsplätze registriert sind, waren es 2011 bei mehr als doppelt so starker Flotte auch nur 656.
Die Sache mit der „Ausflaggung“
Gründe für das Schrumpfen der Flotte sehen Experten neben diversen konjunkturellen Faktoren vor allem im Ausstieg diverser nationaler Banken aus der Schiffsfinanzierung. Die dauerhaft schlechte Ausbildungs- und Beschäftigungssituation hingegen ist wesentlich einem anderen Faktor zuzuschreiben: Nach wie vor haben deutsche Reedereien das gesetzlich verankerte Recht, ihre Schiffe im Register eines anderen Staates anzumelden (und so die Flagge zu wechseln). Solche eine „Ausflaggung“ bedeutet, an Bord ausländische Seeleute zu deutlich niedrigeren Heuern beschäftigen zu dürfen – für die Reeder eine teilweise drastische Kostensenkung (gleich Gewinnmaximierung). Zwar ist dieser Wechsel zu einer so genannten Billigflagge immer nur auf jeweils zwei Jahre befristet möglich, allerdings ist dies beliebig oft verlängerbar.
Deutsche Ausbildungsabschlüsse für Seeleute setzen aber eine aktive Fahrenszeit auf Schiffen unter deutscher Flagge oder der eines EU-Staates voraus – und nicht unter den bei deutschen Reedern so beliebten „Billigflaggen“ etwa Liberias, Panamas oder Antigua-Barbudas. „Grundstock“ der Seeleute-Ausbildung ist nach wie vor die duale Berufsausbildung zum Schiffsmechaniker, die mit einem (dem Facharbeiterbrief entsprechenden) so genannten Befähigungszeugnis – auch „Wachbefähigung“ genannt – abgeschlossen wird. Allerdings wählen rund drei Viertel der Absolventen dies nur als Zwischenstufe, bevor sie per Fach- oder Hochschulstudium eine Laufbahn als nautischer oder technischer Schiffsoffizier einschlagen. Insofern erstaunt es nicht, dass knapp 62 Prozent der Auszubildenden eine Hochschul- oder Fachhochschulreife mitbringen – und nur 7,5 Prozent einen Hauptschulabschluss.
Auch dafür ist übrigens der Gesetzgeber mit verantwortlich. Auf Druck der Reeder wurde die Schiffsbesetzungsverordnung Stück um Stück soweit aufgeweicht, dass nun an Bord der wenigen Schiffe unter deutscher Flagge nicht mehr, wie früher, mindestens 4-5 deutsche Seeleute, sondern nur noch 1-2 deutsche oder europäische Seeleute beschäftigt werden müssen. Dazu muss aber betont werden, dass die einschlägige Liste der Gewerkschaft ITF (der Internationalen Transportarbeiter-Föderation) über „Billigflaggen“-Staaten auch etliche EU-Mitgliedsländer aufzählt.
Niedersachsen macht’s billig(er)
Was also bleibt einem Interessenten, der ohne ein Studium zur See fahren möchte? Die Hoffnung, eine der spärlichen Schiffsmechaniker-Stellen an Bord eines Forschungs- oder Behördenschiffs oder eines Schleppers (sofern nicht auch ausgeflaggt) erlangen zu können. Wobei auch hier noch „Luft nach unten“ ist – denn es gibt seit einigen Jahren für junge Leute noch einen weiteren Zugang zur Seefahrt, die Ausbildung zum „Schiffsbetriebstechnischen Assistenten“ (SBTA) – eine Art „Billig-Matrose“. Es handelt sich dabei um eine momentan noch niedersächsische Landesregelung – dazu sollte man wissen, dass laut Reederverband in Niedersachsen mit 112 mehr als ein Drittel aller deutschen Reedereien gemeldet ist.
Beim SBTA ist die Ausbildung von drei auf zwei Jahre verkürzt und nicht der BBS-Aufsicht unterworfen. Es gibt weder einen Rahmenausbildungsplan für die Zweige „Nautik“ oder „Technik“ noch gelten die Auszubildenden als Besatzungsmitglied nach dem Seearbeitsgesetz, sie haben weder Vergütungs- noch Urlaubs- oder Ausbildungsförderungs-Ansprüche: Diese für „kostenbewusste“ Reeder ideale Bordarbeitskraft soll laut aktuellem Referentenentwurf des Bundesverkehrsministeriums (Staatssekretär: der Niedersachse Enak Ferlemann, CDU) per Änderung der Seeleute-Befähigungsverordnung künftig vom Hilfs- zum Facharbeiter aufgewertet werden und so Matrosen-Status erhalten. Peter Geitmann, Schifffahrtsekretär der Gewerkschaft ver.di, kritisiert das scharf: „Wenn das durchkommt, ist das der ‚Dolchstoß‘ für den gut qualifizierten Schiffsmechaniker, denn als Matrose ist der SBTA rund 1200 Euro billiger“.
Geitmann, der selbst 20 Jahre zur See gefahren ist, zeigt sich gleichermaßen skeptisch und zuversichtlich: Einerseits sei ein Richtungswechsel für den Erhalt seemännischen Knowhows nicht in Sicht, „obwohl wir den dringend brauchen“. Andererseits lobt er den Beruf des Seemanns als vielfältig, spannend und anspruchsvoll, er bedürfe guter Kenntnisse und hoher Willensstärke. In diesem Sinne verweist der Gewerkschafter auch auf die neue Webseite der BBS, die unter www.machmeer.de gezielte Nachwuchswerbung betreibe: Die Gewerkschaft trage das im Frühjahr gestartete Konzept mit, sagt Geitmann: Trotz einiger konzeptioneller Zweifel habe man sich „einem derartigen Signal für Nachwuchswerbung nicht verweigern“ wollen.